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Michael Döhmann

Vom Reisen und Bleiben

Nr 232 | April 2019

Ich bin schon immer gern gereist. Woher sollten denn die Impulse für die eigene Arbeit kommen, wenn nicht von der Beschäftigung mit anderen Orten, anderen Menschen, anderen Denkweisen! Eine Gegend der Welt, die mich immer sehr interessiert hat, ist Nordamerika. In die USA zu reisen, war immer ein Traum von mir – nicht zuletzt, da mich das Werk des Schriftstellers Walt Whitman (1819–1892) seit meiner Jugend nie losgelassen hat. Whitman ist vor allem bekannt durch sein Hauptwerk Grashalme, das er schrieb, um die Liebe zu seiner Heimat auszudrücken.
Es enthält Gedichte, in denen er zum Teil hymnisch sein Vaterland preist, aber auch die Schrecken des Krieges darstellt, die er selbst unmittelbar erfuhr, da er den amerikanischen Bürgerkrieg hautnah als Krankenpfleger miterlebt hat. Die größte Bekanntheit aus den Grashalmen hat zweifellos Whitmans bewegendes Gedicht an den Präsidenten Abraham Lincoln, das er nach dessen Ermordung verfasste: «O Captain! My Captain!» – bekannt aus dem Film Der Club der toten Dichter mit Robin Williams.
Whitman wurde auf Long Island ge­boren und verbrachte dort nach seiner Kindheit in Brooklyn später noch einmal mehrere Jahre. Und es ist diese Insel Long Island, die sich von New York City aus etwa 190 Kilometer weit in den Atlantik bis nach Montauk ausdehnt, die es mir besonders angetan hat.
So ist es auch kein Zufall, dass mein Roman Grashalme und Sterne zu einem großen Teil dort spielt. Dort trifft der junge Soldat Jim seine große Liebe Shannon, und es vergeht eine gewisse Zeit, bis die beiden tatsächlich zueinander finden. Das liegt unter anderem daran, dass Jim mit seinem Freund David ausgedehnte Motorradtouren unternimmt, die die beiden von Long Island über Connecticut und Rhode Island bis nach Massachusetts führen. Es liegt aber auch an Jims Schüchternheit, die es ihm zunächst nicht erlaubt, alles auf eine Karte zu setzen und sich Shannon zu nähern. Als sie sich endlich gefunden haben, ist es der nächtliche Sternenhimmel, über den die beiden sich miteinander verbunden fühlen. Und er ist es auch, mit dessen Anblick sie sich trösten, als Jim die Heimat verlässt, um sich nach Europa einzuschiffen, wo der Krieg auf ihn wartet – und mit ihm das Grauen, das auch Walt Whitman in seinen Grashalmen beschreibt.
Dieses Buch, das Jim immer mit sich herumträgt, ist sein ständiger Begleiter und sein Trost, während er in Gedanken immer wieder in seine Heimat Long Island und zu Shannon reist.
Walt Whitman erlitt mit 53 Jahren einen Schlaganfall, was dazu führte, dass seine letzten zwanzig Lebensjahre (äußerlich) wesentlich weniger bewegt waren als sein bisheriges Leben.
Vielleicht ist es nicht zuletzt diese biografische Parallele, diese Schicksalsverbundenheit, die mir sein Werk so nahe bringt. Und vielleicht rührt meine Reisesehnsucht auch daher, dass ich selbst meinen Wohnort Langenau bei Ulm aufgrund meiner körperlichen Unbeweglichkeit nur noch selten verlasse. Auch in den USA war ich nie, dafür aber habe ich Long Island und die Gegend der Motoradausflüge meiner Romanfiguren Jim und David umso intensiver auf der Landkarte und in zahllosen Büchern studiert. Denn genau das ist es ja, wozu die Literatur nicht zuletzt da ist: um die Welt zu erleben – auch und gerade die Orte, die wir selbst nie bereisen können.
Walt Whitman hätte am 31. Mai 2020 seinen zweihundertsten Geburtstag gefeiert. Ohne ihn wäre mein Roman Grashalme und Sterne nie entstanden.