Udo Herrmannstorfer im Gespräch mit Ralf Lilienthal

Entwicklung gelingt nur gemeinsam

Nr 233 | Mai 2019

Vor 100 Jahren hat Rudolf Steiner das Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage» veröffentlicht und darin seine Ideen über die «Dreigliederung des sozialen Organismus» dargelegt. In Anknüpfung an die Ideale der Französischen Revolution spricht er von der Freiheit im Geistesleben, von der Gleichheit im Rechtsleben und von der Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben – Gedanken, die er in den Folgejahren weiter ausdifferenziert hat und die zur Grundlage einer bis heute anhaltenden sozialen Bewegung geworden sind.
Udo Herrmannstorfer, studierter Volkswirtschaftler, Berater, Seminarleiter, Vortragsredner und Buchautor, blickt auf über fünf Jahrzehnte theoretischer und praktischer Auseinandersetzung mit den sozialökonomischen Ideen der Dreigliederung zurück.

Ralf Lilienthal | Herr Herrmannstorfer, was ist Ihrer Ansicht nach das auch heute noch Gültige an Rudolf Steiners Ideen zur Dreigliederung des sozialen Organismus?
Udo Herrmannstorfer | Die Erkenntnis­haltung. Die Formen und Strukturen unserer sozialen «Umwelt» sind aus vergangenen Verhältnissen herausgewachsen. Wer bei diesen «Tatsachen des Lebens» stehenbleibt und Rezepte daraus ableitet, «wie man es machen sollte», greift zu kurz. Stattdessen muss man auf das Gestaltende schauen, auf die in den Tatsachen wirksamen Ideen. In den Kernpunkten der sozialen Frage wird keine neue Theorie ausgebreitet. Der Gedanke des dreigliedrigen sozialen Organismus ist nicht ausgedacht, ist kein Konzept, das umgesetzt werden soll, sondern eine in den sozialen Phänomenen gefundene, wirklichkeitsge­staltende Idee. Und ein Beispiel für Rudolf Steiners begriffsbildende Fantasie. Auch andere Begriffsbilder wie «gerechter Preis» oder «Eigentum im sozialen Fluss» sind, richtig angewendet, Universalschlüssel für soziale Fragen – wie starke Scheinwerfer leuchten sie aus, was sonst im Dunkel der Zusammenhangslosigkeit bliebe.

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RL | Gibt es so etwas wie einen Keimpunkt der Dreigliederungsidee?
UH | Ja, es ist die Frage: Was geschieht im Sozialen, wenn der Einzelne seine Mündigkeit ergreift? Denn genau das kann man heute weltweit in unterschiedlichen Aus­prägungen beobachten. Die Menschen lösen sich aus den gruppenhaften Bindungen der Vergangenheit, die bisher das soziale Leben reguliert haben – im Kleinen wie im Großen! Aber was hält Gemeinschaften noch zu­sammen, wenn die bisherigen Bindungen – Familie, Nationalität oder Religion – zer­fallen? Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sagt, dass soziale Gruppen einen gefährlichen Weg gehen, wenn sich ihre Identität auflöst. Einen gefährlichen Weg?
Vielleicht. Aber es ist der faktische Ausgangspunkt des modernen Menschen! Der Wunsch, eine gemeinsame Substanz der Menschheit zu finden, ein Fundament, auf dem alle stehen, ist dagegen rückwärts­gewandt. Es gilt vielmehr, die Konsequenzen daraus zu ziehen, dass Menschen ihren eigenen Standpunkt ein­nehmen und nicht mehr auto­matisch einer Gruppe unterworfen sind. Das hört sich einfach an, aber nur mit allgemeiner Toleranz – «jeder hat seine eigene Meinung» – kommen wir nicht weit. Denn was heißt das für das Zusammenleben, wenn sich der soziale Organismus durch den Punkt der Individualität durchstülpt? Das ist die Wurzelfrage!

RL | Das klingt nach der individuellen «Umwertung aller Werte». Und nach sehr viel Arbeit für jeden von uns!
UH | Wer die alten Formen verlässt, muss sich bewegen. Das ist die Voraussetzung für jede Entwicklung. Und «Entwicklung» ist der Schlüsselbegriff. Wenn wir die Verhältnisse der Gegenwart mit den idealen Vorstellungen einer besseren Zukunft vergleichen, müssten wir verzweifeln. Wenn man stattdessen fragt: Wo will das hin? Was ist in der Gegenwart dran? Was kann daraus werden? Wenn man auf die Entwicklung vom «Hier» zu einem noch zu entfaltenden «Da» schaut, bekommt man das richtige Bild. Aber nur, wenn man selbst losgeht. Dann steht zwar einer hier am Weg und ein anderer dort – trotzdem nehmen alle Teil an der ganzen Entwicklung. Und die Grundgeste ist: Kommst du mit? Das Soziale ist dann der «Sozius», der Weggefährte. Auch das ist ein sehr hilfreicher Begriff. Aus dieser Perspektive verändert sich alles – auch die tagesaktuellen Themen. Der Brexit? Die einen finden ihn gut. Die anderen nicht. Wichtiger ist die Frage: Worum wird da gerungen? Das ist die Schlüsselfrage. Unabhängig von den Personen – Theresa May, Boris Johnson, Jeremy Corbyn. Wenn man ohne den Entwicklungsbegriff auf die gegenwärtige Situation blickt, steht man vor schier unlösbaren Aufgaben. Rudolf Steiner hat schon damals die Konsequenzen aus der Mündigkeit des Individuums gezogen. Ihm war klar, dass, wenn das Ich «ich» sagt, muss es auch «du» sagen. Und es muss lernen, die sozialen Fragen zu stellen. Jedes Ich! Aber wie können wir den Menschen verständlich machen, dass sie Teil einer Entwicklung sind, die nur gelingt, wenn sie selbst etwas dazu beitragen? Was sind ihre Beiträge? Man muss dankbar sein für jeden Menschen, der etwas macht. Sogar dann, wenn das scheinbar im Widerspruch steht zu den Dingen, die wir selbst richtig finden.

RL | Die Kombination von wenig Staat und viel individueller Freiheit bringt jede Menge Spannungen mit sich. Kein Wunder, dass in unserer Gegenwart der Ruf nach neuen Autoritäten immer lauter wird.
UH | Noch einmal: Die alte Sozialordnung ist brüchig und trägt nicht mehr. Der Spiegel hat vor Kurzem getitelt: «Brauchen wir einen neuen Staat?» Diese Frage wird weltweit gestellt. Alle Staaten haben ein mehr oder weniger großes Legitimitätsproblem. Und das Gleiche gilt auch für die internationalen Verbünde. Die alten Formen sind im Kern abgelebt – das ist gesichert! Noch haben wir eine Gesellschaft, die auf Einheit geeicht ist. Auf der anderen Seite steht die erwachende Individualität. Und beides will nicht zu­sammenpassen, auch wenn man so tut, als gäbe es diese Art von Gemeinsamkeit noch. In dieses substanz- und inhaltslose Vakuum schießt dann allzu leicht neue Identität, und die Gefahr ist groß, dass einzelne Persönlichkeiten oder Gruppen autoritäre Regeln aufstellen wollen und sich dabei der dumpfen Ängste und Kräfte bedienen. Der Ruf nach dem «starken Mann», nach der «Ordnungskraft» ist größer geworden, denn man hält das scheinbare Chaos nicht aus. Weniger radikal, aber dennoch das Gegenstück dazu, ist die Reanimierung des Staates: Die Mehrheit sagt, wohin es gehen soll. Der Preis dafür ist die individuelle Freiheit. Wer will dagegen etwas sagen, schließlich ist die Mehrheitsmeinung doch demokratisch zustande gekommen?

RL | Welche neuen gesellschaftlichen Strukturen und Formen sind denn stattdessen «an der Zeit»?
UH | Die Aufgaben haben sich geändert. Frühere Strukturen waren machtvoll und bestimmend, sie verfestigten, was sich bewährt hatte. Heute haben Strukturen die Aufgabe, einen Rahmen zu geben, Initiative zu schützen, Grenzen zu setzen – sie verhindern, dass wir «übergriffig» werden. Man meint zwar immer noch, dass Gemeinschaften von einem Zentrum aus gestaltet werden müssen. Aber dieses Zentrum gibt es nicht mehr. Das Zentrum ist vielmehr der Zusammenklang der verschiedenen Menschen. Das Ver­bindende entsteht zwischen ihnen aus dem «Kommst du mit», aus gemeinsam zu lösenden Aufgaben und begonnenen Initiativen. Dann ist jeder tätig, und es «macht» nicht mehr einer für alle. Rudolf Steiner weist darauf hin, dass solcherart Beziehungen zwischen Menschen undeterminiert und frei nur aus ihrer Begegnung hervorgehen. Das ist eine Art «Schöpfung aus dem Nichts», ein wunderbarer Moment der Beziehung, den wir nicht verschlafen dürfen. Wir alle haben ein Potenzial, das nur von einem konkreten Gegenüber abgerufen werden kann. Einen schönen und schützenswerten Ausdruck dieser Beziehungen findet sich übrigens schon jetzt im Rechtsleben: die «Vertrags­freiheit». Durch den bloßen Zusammenklang zweier Willen werden im Vertrag neue Rechtsbeziehungen geschaffen – und niemand kann sie verbieten!

RL | Was ist heute nach 100 Jahren Drei­gliederungsbewegung möglich? Im Großen wie im Kleinen?
UH | Jeder kann an jedem Ort anfangen, und es gibt keinen Grund zu sagen: Es geht gar nichts. Manchmal treten auch, von nieman­dem vorausgesehen, Momente auf, wo noch sehr viel mehr möglich wird. Man muss wach sein, um sie zu bemerken. Und vorbereitet – denn solche Momente gibt es immer wieder. Wie etwa 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, als die Dreigliederungsidee ihre erste große historische Chance hatte. Oder nach dem Mauerfall, als für wenige Monate Freiräume da waren – für einen «dritten Weg», wie ihn das Neue Forum intendiert hat, oder auch, etwas kleiner, für ein gerechteres Bodenrecht. Und auch heute, im Zusammenhang der Migrationsbewegungen, haben sich buchstäblich die Grenzen verschoben. Aber ganz gleich, wie groß die historischen Chancen der Dreigliederung auch sind, die Ant­worten in den Krisen der Zeit werden nur von den beteiligten Menschen gegeben. Und vor allem gelebt. Denn der Weg mag sichtbar sein, aber jeder Einzelne muss ihn selbst gehen. Der eine sagt dann vielleicht: «Ich mache», ein anderer sagt: «Ich mache mit.» Sich daran zu gewöhnen, dass man Beteiligter ist, Mitverantwortlicher – das ist die innere Umwälzung, die wir brauchen. Und die kriegt man nicht ohne Übung!