Bei höheren Wirbeltieren sind vielfältige Formen von Kommunikation und Lernen, von Nahrungserwerb und Werkzeuggebrauch ohne Gedächtnis kaum vorstellbar. Man könnte einwenden, dass Tiere sich nur durch äußere Sinnesreize an Vergangenes erinnern. Aber erinnern sich nicht auch Menschen täglich aufgrund äußerer Reize, z.B. Farben, Düfte und Klänge, an mehr oder weniger wichtige Dinge? Auch das ist «Gedächtnis».
«Kluge Tiere» wie etwa Menschenaffen, Pferde, Hunde, Rabenvögel oder Papageien besitzen ein gutes Gedächtnis. Dass der Mensch sich darüber hinaus auch situationsunabhängig an etwas erinnern kann, ist dabei unbestritten. Ratten und Meeressäugetiere besitzen ein detailliertes Ortsgedächtnis, ebenso viele Zugvögel, die im Frühjahr oft punktgenau in ihre Heimatgebiete zurückfinden.
Auch Elefanten haben ein hervorragendes Gedächtnis und erkennen nach Jahrzehnten Menschen und Artgenossen wieder. Eine ihrer wertvollsten Fähigkeiten besteht darin, dass Einzeltiere ihre Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergeben können. Ein detailliertes räumliches Vorstellungsvermögen zeigten mit GPS-Sendern ausgestattete Wüstenelefanten: Sie marschierten teilweise aus bis zu 50 km Entfernung schnurstracks auf eine Wasserstelle zu, ohne ihre Richtung zu korrigieren.
Affen und zahlreiche Vögel merken sich im Dickicht tropischer Regenwälder genau, wann und wo welche Früchte reif werden. Rabenvögel kennen nicht nur ihre benachbarten Artgenossen sehr genau, sondern lernen auch, sie richtig einzuschätzen bzw. zu täuschen.
In Memory-Experimenten konnte sogar ihre Fähigkeit nachgewiesen werden, menschliche Gesichter wiederzuerkennen.
Um derartige Versuchsreihen besser zu verstehen, sollten wir uns einmal vorstellen, wir sähen auf einem Bildschirm zuerst die brasilianische Fußballnationalmannschaft und müssten dann im Sekundentakt aus ca. 40 nacheinander auf dem Monitor gezeigten Sportlerporträts jene anklicken, die auch auf dem Gruppenbild zu sehen waren. Wie würde wohl das Ergebis ausfallen? Oder wir hätten die Aufgabe – beim Aufleuchten unterschiedlicher Symbole – im unregelmäßigen Wechsel auf jeweils ein bekanntes bzw. unbekanntes Gesicht zu zeigen. Was die Tiere da wirklich leisten, wäre noch besser zu würdigen, wenn ein Mensch einen derartigen Wiedererkennungsversuch mit Kolkraben-Porträts machen müsste!
Von großer Bedeutung für die Gedächtnisfähigkeiten der Tiere war die Entdeckung, dass sich im Gehirn von Vögeln, Säugetieren und Menschen neue Nervenzellen bilden können. Der Ort der Zellgeburt ist der Hippocampus, der eine Schlüsselrolle für das Gedächtnis spielt.
Zahlreiche Rabenvögel verstecken im Herbst Samen und Nüsse – und sie finden ihre Verstecke nach Wochen und Monaten zuverlässig wieder. Die meisten Rabenvögel und auch andere nahrungsversteckende Singvögel, z.B. Sumpf- und Tannenmeise, haben einen an Volumen und Neuronenzahl signifikant größeren Hippocampus als vergleichbare nicht versteckende Arten, zu denen Dohle und Blaumeise gehören. Die äußerst lern- und anpassungsfähige Kohlmeise versteckt allerdings keine Nahrung. Aber sie beobachtet genau, welche Meisen es tun und wo, denn sie ernährt sich zum Teil von den fremden Vorräten. Das ist zwar nicht die feine Art, aber gewiss nicht unintelligent.
Dafür, dass Tiere ein Gedächtnis besitzen, spricht die Tatsache, dass bei nahrungsversteckenden Tierarten das Volumen des Hippocampus für die Zeit des Versteckens und Wiederfindens zunimmt. Fängt man aber im Winter einen freilebenden Häher und füttert ihn, so ist (wieder) eine Rückbildung dieser Gehirnregion festzustellen.