In vielen Traditionen – so in der althebräischen oder altindischen – wurde das «Selbst» oder das «Ich» als etwas Göttliches angesehen, weil für die große Mehrzahl der Menschen die Bewusstheit, da sie unreflektiert blieb, keine Erfahrung war; und weil die sprachgegebenen, auf sich zurückweisenden Wörter wie «Selbst», da sie Erziehungsmittel auf dem Wege zur Selbstbewusstheit waren, ahnungsweise als zur Göttlichkeit gehörig empfunden wurden. Im partizipierenden Einheitsbewusstsein – nur wir nennen es «Bewusstsein», nicht diejenigen, die in diesem Zustand gelebt haben – war die Aufmerksamkeit der Menschen nicht frei, weil kein auch nur provisorisches Selbst oder Ich, kein selbstbewusster Mittelpunkt im Menschen vorhanden war, von dem aus die Aufmerksamkeit hätte gelenkt werden können. Sie war stets ungeteilt in der Hingabe an die Welt, an die geschaffene und an die schaffende Welt der Götter. Aus demselben Grund hatte man keinen Blick auf die Phänomene des Bewusstseins – auch auf das nicht, was wir heute Aufmerksamkeit nennen – und dadurch keine Begrifflichkeit.
Das Wort «Aufmerksamkeit» kann nur annähernd bezeichnen, was hierunter zu verstehen ist. «Aufmerken» ist zu sehr von außen bedingt, «Aufmerksamkeit» zu sehr von innen, als eigene Aktivität. Die Gebärden der Aufmerksamkeit sind mannigfaltiger, sie umfassen «Wahrnehmen», «Gewahrwerden» als empfangendes aktives Denken, Beobachten als intentionale, mehr vom Willen des Subjektes ausgehende Tätigkeit. Man könnte das Wort «Bewusstheit» (awareness) oder Wachheit verwenden, das ist aber im heutigen Gebrauch zu passiv. Auch fehlt allen Bezeichnungen der heilige oder religiöse Charakter, welcher im niederländischen Wort aandacht (besonders hörende Aufmerksamkeit) noch mitklingt und ebenso in dem einzigartigen Satz von Malebranche aus den Conversations chrétiennes: «Die Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet, das wir an die innere Wahrheit richten, damit sie sich in uns offenbare.» («L’attention est la prière naturelle, que nous faison à la vérité intériere, afin qu’elle se découvre en nous.»)
Diese Aufmerksamkeit ist die der Menschennatur gegebene Kraft, ohne die man nicht beten könnte und durch die man die Wahrheit, die Unverborgenheit sucht. Und die offenbart sich immer im Menscheninnern. Sätze wie der von Malebranche entstammen großen intuitiven Einsichten, darum sind sie auch sehr selten.
Gewöhnlich denkt man über die Aufmerksamkeit gar nicht nach, umso weniger, als man sie weder jemals direkt erfährt noch beobachten kann – man bemerkt sie, wenn sie nach einer Abwesenheit zurückgekehrt ist, im Nachhinein. Weil wir alles durch sie erfahren – Wahrnehmungen, Gedanken, Erinnerungen –, bleibt sie selbst unerfahrbar. Sie scheint das Undurchsichtige, die ganze Objektwelt, das «Andere» zu vermitteln, indem sie zu ihren Objekten hin durchsichtig ist, und ist als Durchsichtiges nicht zu sehen.
Auch alle innerseelischen Phänomene – Denken, Fühlen, Wollen – werden durch sie als Objekte beobachtet und wahrgenommen; als Objekte, eben weil diese seelischen Elemente immer schon vergangen sind, wenn sie in das innere Blickfeld gelangen, oder aber in einem schnellen Pendelschlag der Aufmerksamkeit zwischen Hingegebenheit und Bei-sich-Sein wahrgenommen werden, ebenso wie das im Sinneswahrnehmen geschieht. Nur die Aufmerksamkeit könnte auf sich selbst aufmerksam werden, soviel ist schon durch die vorangegangenen Beobachtungen klar.
Obwohl alle seelischen Elemente Prozesse sind, das heißt, sie sind nicht, sondern sie werden, sind sie für die Aufmerksamkeit immer nur als Vergangenheitsobjekte wahrnehmbar. Warum das so ist, bildet eine der Fragen, die uns beschäftigen werden; die andere Frage bezieht sich auf die Erfahrbarkeit der Aufmerksamkeit selbst. Die zwei Fragen hängen zusammen. Meditation: Wem vermittelt die Aufmerksamkeit etwas?