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Jean-Claude Lin

Ein Haus staunenswerter Begegnungen

Nr 235 | Juli 2019

Nach 43 Jahren stand ich ihr endlich wieder gegenüber. «Da bist du ja», schien sie mir zu sagen. «Wo warst du die ganze Zeit?» Sie schaute etwas überrascht über ihre linke Schulter – so schön, so anmutig, so innig vertraut mit ihrem blau-goldenen Kopftuch, dem schmalen weißen Kragen und der großen Perle am Ohr. Wenn ich als Zwanzigjähriger von meiner großen Liebe erzählte, schmunzelten meine kunstsinnigen Freunde, dass ich erst so spät von der Existenz dieses wunderbaren Mädchens erfahren hatte.
Jetzt allerdings war ich nicht in erster Linie nach Den Haag ins Mauritshuis gereist, um Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring zu sehen. Nicht dem am 31. Oktober 1632 in Delft geborenen, nur 43 Jahre alt gewordenen Jan Vermeer galt mein erneuter Besuch, sondern dem älteren, am 15. Juli 1606 in Leiden geborenen und in diesem Jahr im Oktober vor 350 Jahren gestorbenen Rembrandt.
Am Tag zuvor hatte ich die große Ausstellung Alle Rembrandts im Amsterdamer Rijksmuseum – also 300 Radierungen, 60 Zeich­nungen und 22 Gemälde – bewundern können. Jetzt freute ich mich auf eine kleinere Anzahl der dem Meister zugeschriebenen Gemälde zu sehen, darunter die seinen frühen Ruf begründende Anatomielehrstunde des Dr. Nicolaes Tulp, durch die ein konventionelles Gruppenbild zu einer ereignisschwangeren Erzählung wurde. Im Rijksmuseum hatten unter den vielen Radierungen, die Rembrandt von sich angefertigt hatte, das so stille, be­sinnliche, geheimnisvoll abwartende, um 1628 in warmem Licht gemalte kleine Selbstbildnis gegenüber dem um 1661 entstandenen, größeren Selbstbildnis als Paulus gehangen, das einen so tief resigniert wie fragend anschaut: Das war’s jetzt wohl. Was ist von diesem Leben zu halten?
Im Mauritshuis dagegen hängt das im letzten Lebensjahr 1669 entstandene Selbstbildnis, das so viel innere Ruhe ausstrahlt. Der Blick scheint aus einer größeren Distanz auf das gewesene Leben zu schauen. Hier ist kein Hadern mehr, sondern Frieden – wenn auch in stiller Erwartung einer noch unbekannten Zukunft.
Bei einem Gemälde blieben meine Begleiterin und ich länger stehen, als ein älterer schmächtiger Herr eine Gruppe von amerikanischen Besuchern zu der frühen Darstellung des Simeon im Tempel aus dem Jahr 1631 führte und über das Bild zu erzählen begann. Er war sichtlich bewegt von der inneren Leuchtkraft des alten Simeons, der mit dem neugeborenen Jesus im Arm vor dem ebenso knienden Paar Maria und Joseph kniet. Ringsum im Halbdunkel stehend oder sitzend sind die neugierigen oder desinteressierten Schriftgelehrten – links hochaufgerichtet mit segnender rechter Hand ist die 84-jährige Prophetin Hannah. Als die anderen Besucher weiterziehen, bleibt der Fremdenführer noch eine Weile über die Kunst Rembrandts er­zählend bei uns. Während Frans Hals, ein anderer Meister und Zeitgenosse, die einzelnen, flüchtigen Regungen des mensch­lichen Charakters so erstaunlich lebhaft hat dar­stellen können, konnte Rembrandt die bleibende Individualität des Menschen ins Bild bringen. Und dann zitiert er auswendig das hohe Preislied des alten Simeons im Anblick des Christkinds aus dem zweiten Kapitel des Lukasevangeliums in der unverkennbaren Übersetzung Emil Bocks: «Nun, o Gebieter, entlasse deinen Knecht, wie du gesagt hast, und gib ihm deinen Frieden. Denn jetzt haben meine Augen den Bringer des Heils geschaut, den du zu uns gesandt hast. Du lässest ihn erstehen im Angesichte aller Völker: ein Licht, das die Völker der Welt zur Offen­barung führt und dein eignes Volk im Geiste leuchten lässt.»
Vielleicht braucht es die intimeren Räumlichkeiten des Mauritshuis, um solche Begegnungen möglich zu machen.