Konrad Schily im Gespräch mit Philip Kovce

Gemeinsam sind wir frei

Nr 235 | Juli 2019

Ich treffe Konrad Schily in seiner Berliner Zweitwohnung unweit des Regierungsviertels. Er hatte unseren Termin kurzfristig nach hinten verschoben, da er sich noch mit Parlamentariern des Bundestages beraten wollte. Worum ging es? Schily – von 2005 bis 2009 selbst Bundestags­abgeordneter (FDP) – setzt sich derzeit für die Anerkennung freier Solidargemeinschaften als Alternative zu gesetzlicher und privater Krankenversicherung ein. Der studierte Mediziner und Facharzt für Neurologie und Psychiatrie engagiert sich damit weiterhin für sein Lebensthema: Freiheit im Sozialen. 1937 in Bochum geboren, gründete er mit anderen 1969 das Herdecker Gemeinschaftskrankenhaus (www.gemeinschaftskrankenhaus.de) sowie 1983 die Universität Witten/Herdecke (www.uni-wh.de), deren Präsident er 20 Jahre lang war.
Ich will von ihm erfahren, was es mit der Freiheit auf sich hat, wenn sie nicht bloß auf den Einzelnen abzielt, sondern zwischen Menschen wirksam wird …

Philip Kovce | Dass die Gedanken frei seien, besingt schon ein altes Volkslied. Sie, lieber Herr Schily, haben ein freies Krankenhaus und eine freie Universität gegründet sowie unzählige freie Initiativen unterstützt. Offensichtlich scheint es eine Freiheit zu geben, die über die Gedankenfreiheit hinausgeht.
Konrad Schily | Wir wollten nicht nur frei denken, sondern auch frei handeln. Wir haben vor 50 Jahren das Herdecker Gemeinschaftskrankenhaus gegründet, um in der Therapie und Sozial­gestaltung neue Wege zu gehen. Die Universität Witten/Herdecke wurde ins Leben gerufen, um Studium und Lehre zeitgemäß weiterzuentwickeln. Dabei ergaben sich ebenfalls neue Lösungen für Arbeitsverträge, Auswahlverfahren usw. Je klarer solche Verbindlichkeiten im Dienste der gemeinsamen Sache stehen, desto weniger muss sich der Einzelne dabei unfrei fühlen.

PHK | Freiheit äußert sich demnach nicht in fehlender Verbindlichkeit, sondern sie hängt gerade damit zusammen, für Neues sinnvolle Vereinbarungen zu treffen?
KS | Ja. Sinnvolle Vereinbarungen müssen getroffen werden, sonst kann man nicht zusammenarbeiten. Wer als Arzt frei behandelt oder als Professor frei forscht und lehrt, der darf dabei nicht willkürlich agieren. Er muss kompetent und stets bereit sein, sich dem kritischen Urteil der anderen zu stellen. Auf diese Weise kann Fortschritt entstehen und Neues in die Welt kommen. Anders gesagt: Freiheit begründet sich durch Zu­wendung zum anderen. Sie entsteht nur durch gegenseitige Wahr­nehmung, durch die Bereitschaft, voneinander zu lernen. Wer sich für unfehlbar hält, bleibt Gefangener seiner selbst.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

PHK | Von der Arzneimittel- bis zur Hochschulzulassung, von der Schul- bis zur Impfpflicht, immer wieder meldet sich der demokratisch legitimierte Rechtsstaat mit Gesetzen und Ver­ordnungen zu Wort, um bestimmte Belange des Gesundheits- und Bildungswesens zu regeln. Sind solche staatlichen Regelungen der Freiheit förderlich oder hinderlich?
KS | Der Rechtsstaat muss sich auf die schutzwürdigen Grundrechte beziehen, etwa auf die Freiheit der Person, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Vertrags­freiheit. Die Schwäche des darüber hinaus alles regeln wollenden Staates ist, dass er im Grunde genommen niemals sachver­ständig für das eigentliche Problem ist. Mit dem fehlenden Sachverstand gehen außerparlamentarischer Lobbyismus und parlamentarische Verantwortungslosigkeit einher. Wer als Arzt Patienten kuriert oder als Professor Doktoranden promoviert, der übernimmt persönliche Verantwortung und haftet für seine Fehler. Für die verkehrtesten Gesetze, die wir haben, haftet niemand!

PHK | Wieso? Wer als Politiker ein fragwürdiges Gesetz verantwortet, der kann dafür doch zur Rechenschaft gezogen werden, indem er abgewählt wird oder zurücktreten muss.
KS | Kein Politiker ist für ein Gesetz allein verantwortlich. Wenn ihm dennoch der Schwarze Peter dafür zugeschoben wird, dann begründet das nichts anderes als eine symbolische Haftung jenseits tatsächlicher Betroffenheit. Mit Freiheit hat das herzlich wenig zu tun. Freiheit bedingt persönliche Verantwortung. Wenn diese Verantwortung abstrakt wird, dann löst sie sich auf, und mit ihr die Freiheit. Dann herrscht Paragraphenwillkür.

PHK | Aber sind Schulpflicht und Impfpflicht nicht zwei gute Beispiele für Regelungen, die sich gerade nicht auf bürokra­tisches Kleinklein, sondern auf Grundsätzliches beziehen?
KS | Um Bildung und Gesundheit zu ermöglichen, bedarf es weder der Schul- noch der Impfpflicht. Womit ich nichts gegen Schulen oder Impfungen sagen will, sondern gegen die Entmündigung, die derartige Pflichten mit sich bringen. Der Gesetzgeber geht immer davon aus, dass er es ausschließlich mit Dummen zu tun hat, und dass deshalb lauter Vorschriften hermüssen. Dabei übersieht er auf tragische Weise alles Individuelle, also alles Menschliche, und agiert nicht als freilassender Grundrechts­garant, sondern als bevormundender Besserwisser.

PHK | Was sind eigentlich die geistigen Grundlagen dieser rechtsstaatlichen Regulierungswut?
KS | Dass das für Heilung und Bildung wesentliche persönliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient, Professor und Student, Lehrer und Schüler bei aller Therapie­freiheit bzw. Freiheit von Forschung und Lehre immer unfreier, das heißt immer unzugänglicher für individuelle Lösungen wird, liegt meines Erachtens daran, dass wir uns immer mehr daran gewöhnen, einander für Maschinen anstatt für Menschen zu halten. Schon der große Berliner Arzt Rudolf Virchow hat im 19. Jahr­hundert sinngemäß formuliert: Wenn die Medizin erfolgreich sein will, dann muss sie eine Wissenschaft werden. Wenn sie eine Wissenschaft werden soll, dann muss sie eine Naturwissenschaft werden. Und wenn sie eine Naturwissenschaft geworden ist, dann werden wir wissen, wie jede Krankheit zu behandeln ist und die freie Arztwahl erübrigt sich. Das ist zwingend mechanistisch gedacht. Und weil dieses Denken so einflussreich ist, gibt es inzwischen für jedes Wehwehchen eine Leitlinie, obwohl sich das Leben niemals nach Leitlinien richtet und Menschen keine Maschinen sind.

PHK | Sind all die Leitlinien, Verordnungen und Gesetze, die der Freiheit abträglich sind, somit nichts anderes als die rechtsstaatlichen Konsequenzen des mechanis­tischen Menschenbildes, das Sie soeben skizziert haben?
KS | So ist es. Übrigens gibt es natürlich Situationen, die mit individueller Freiheit nichts zu tun haben. Wenn der Pilot vor dem Start des Flugzeugs ein Check-up machen muss, dann ist das notwendig. Punkt. Er muss kontrollieren, ob alles einwandfrei funktioniert, denn er hat es mit einer Maschine zu tun. Maschinen sind nicht frei. Sie laufen gerade dann fehlerfrei, wenn sie völlig zwanghaft funktionieren. Bei Menschen ist das anders …

PHK | Sehen Sie denn auch Bereiche, in denen sich der Rechtsstaat mehr hervortun sollte, um Freiheitsrechte zu verteidigen?
KS | Wenn wir auf die Wirtschaft schauen, dann leben wir dieser Tage in einer freien Marktwirtschaft, die so frei gar nicht ist. Die Wallstreet war früher eine Straße des Sklavenhandels. Heute stehen dort zwar keine Menschen mehr, die verkauft werden, aber sie werden trotzdem verkauft. Tausende Lohnsklaven werden täglich via Börsenhandel von einem Kapitalisten zum anderen gebracht. Sie dürfen zwar streiken und demonstrieren, aber eigentlich sind sie unfrei. Ein bedingungsloses Grund­einkommen würde beispielsweise dafür sorgen, dass Menschen ihre Arbeitskraft nicht mehr menschenunwürdig verkaufen müssen und sich stattdessen fragen könnten, wofür sie sich frei vom Erwerbszwang einsetzen wollen. Diese Freiheit würde unsere Gesellschaft grundlegend verändern und die freie Marktwirtschaft erst wirklich frei machen.

PHK | Was ergibt sich daraus insgesamt für freie Initiativen?
KS | Die Gründung des Herdecker Gemeinschaftskrankenhauses und der Universität Witten/Herdecke waren jeweils möglich, als Personen zusammentrafen, die aus ihrem selbstständigen Urteil die sozialen Konsequenzen für Heilung und Bildung ziehen wollten. Das erste Freiheitsmoment betrifft den Einzelnen, das zweite die Gemeinschaft. Schiller stellt das in seinem Wilhelm Tell beispielhaft dar: Tell ist ein Einzelkämpfer. Er nimmt es auf seine eigene Kappe, den Hut des Landvogts nicht länger demütig zu grüßen. Dabei agiert er nicht als Angehöriger einer bestimmten Religion, Rasse oder Familie, sondern als jemand, der sich selbst als frei begreift. Daraus kann der zweite Schritt erfolgen: Tell und seine Leidensgenossen schwören einander die Treue, in diesem Falle die Eidgenossenschaft. Dieses Urbild ist weiterhin aktuell: Der Einzelne steht heutzutage andauernd schier übermäch­tigen Systemen gegenüber, die es ihm erschweren, seine Freiheit zu ergreifen. Wer unter diesen Umständen dennoch frei werden will, der muss sich gemeinsam mit anderen von den «alten Hüten» der unfreien Systeme befreien. Wie Tell und seine Eidgenossen. Gemeinsam ist eine Freiheit möglich, die der Einzelne allein niemals erreichen könnte.