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Birte Müller

Fürs Hier und Jetzt

Nr 235 | Juli 2019

Zu Beginn des Sommers schnitzen meine Tochter Olivia und ich Weidenpfeifen. Das ist ganz einfach, man benötigt nur etwas Geduld beim Klopfen der Rinde, damit sie sich vom Holz löst. Je frischer der Ast, umso besser geht’s.
Häufig freuen sich ältere Leute, wenn sie Olivia mit einer Weidenpfeife sehen. «Ach wie schön, ich dachte, die Kinder können das heute gar nicht mehr», sagen sie. Aber warum kann meine Tochter das? Natürlich weil sie einen Opa hat, der es ihr beigebracht hat. Man kann doch nicht immer nur jammern, was die Kinder heute alles nicht mehr können. So etwas lernt man ja leider nicht in der Schule – heute nicht und früher nicht.
Da müssen schon wir Eltern und Großeltern ran!
Ich hatte allerdings so lange keine Weidenpfeife geschnitzt, dass ich erst mal googeln musste, wie das genau ging, weil Opa gerade nicht greifbar war. Man sollte eigentlich gar nicht erst aufhören, im Leben Weidenpfeifen zu schnitzen, dann kann man es auch nicht verlernen. Es macht einfach Spaß. Und was ich besonders mag: Sie ist etwas fürs Hier und Jetzt. Ihr Zweck liegt eigentlich nur im Erschaffen selbst. Wenn sie fertig ist, schenkt sie uns zwar ein paar schöne Töne, aber sie kann nicht auf­bewahrt werden.
Ich kann es jedem nur empfehlen, einfach zwischendurch bei einem Spaziergang eine Rute abzubrechen und auf der Bank nicht das Handy, sondern ein Schnitzmesser herauszuholen. Und wie wir ja von früher wissen: Ein Obstmesser tut’s auch!
Ständig höre ich Erwachsene über den Medienkonsum von Kindern nölen, dabei zücken sie selbst ihr Smartphone bei jeder Gelegenheit. Ich weiß, dass viele ältere Menschen sich ohne Smartphone von der jüngeren Generation abgehängt fühlen. Sich damit auszukennen ist ja auch nicht falsch. Andererseits hätten die Enkelkinder vielleicht mehr davon, wenn Oma und Opa – statt sie ständig zu fotografieren und zu lamentieren, weil wieder etwas nicht geht – Zeit zum gemeinsamen Schnitzen hätten. Natürlich ist ein Handy praktisch, aber ich muss mir immer wieder die Frage stellen, wie wichtig es jetzt wirklich ist, damit etwas nachzuschlagen, oder ob ich nicht auch mal ein paar Sekunden in die Gegend gucken könnte. Am liebsten würde ich mein Handy gar nicht mitnehmen, wenn ich draußen in der Natur unterwegs bin. Aber es macht mich nervös, es nicht dabei zu haben. Schlimm! Man kann dann ja auch nicht mal kurz schauen, wie das noch ging mit so einer Weidenpfeife und in welche Richtung eigentlich der Heimweg ist ...


Weidenpfeife
Man kann Pfeifen auch wunderbar aus Eschenruten machen. Ahorn und Kastanie haben oft auch eine schön dicke und saftige Rinde. Hasel wächst zwar schön gerade, aber ich habe die Rinde selbst noch nie heil abbekommen. Der Ast sollte etwa fingerdick sein, frisch und auf einer Länge von ca. 10 bis 12 cm keine Knospe haben. Auf dem Foto sieht man die einzelnen Schritte. Die genaue Anleitung bitte bei Opa erfragen – oder notfalls eben doch googeln.

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