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Renate Schiller

Gott schreibt auf krummen Linien gerade

Nr 235 | Juli 2019

Am Schreibtisch – das heißt, eine geraume Weile mit einem Motiv in Klausur zu gehen.
In meinem Fall waren es die «Gerade und Krumme», ein reduziertes, archaisches Thema, dem ich besonders im Sinne des Formenzeichnens der Unterstufenpädagogik nachgehen wollte. Mir war bewusst, dass auch Ober­stufenschüler und von der Pädagogik ganz unabhängige Künstler und Kunstinteressierte von Gerader und Krummer inspiriert werden können. Der Wille, auch diesen Weg zu skizzieren, stellte sich erst im Verlauf des Schreibprozesses ein.
«Gerade und Krumme», das klingt lapidar. Warum also viele Worte machen? Oder sollte hinter diesen kargen Zeichen, die seit jeher durch den Menschen der Erde eingeprägt werden, etwas Bedeutendes zu finden sein?
Über die starke Wirkung des Paares und das, was aus ihm alles entstehen kann, hatte ich immer wieder staunen können. Das Alter der Probanden spielte dabei keine Rolle. Die ganz Kleinen wie die über Siebzigjährigen gerieten gleichermaßen in Bewegung. Ich bemühte mich, aus dem Phänomen heraus und allenfalls aus der Essenz eines erwor­benen Wissens zu unterrichten. Einzelheiten waren jedoch weitgehend verblasst oder ganz in Vergessenheit geraten. Nun galt es, alte Freundschaften wiederaufzufrischen. Van de Velde, Loos, Kandinsky, Klee, Mondrian, Steiner und viele mehr. Mit welcher Begeisterung wurde ein neuer Formimpuls am Anfang des 20. Jahrhunderts in die Welt getragen! Mit welchem Enthusiasmus hat Henry van de Velde das Hohelied der Linie gesungen. Dagegen nehmen sich die nach wissenschaftlichen Kriterien aufgestellten Untersuchungen Wassily Kandinskys über Punkt und Linie eher nüchtern aus. Voller Zauber ist der Formengarten Paul Klees. Adolf Loos, Vertreter der absoluten Form-Askese, amüsiert durch seine Brillanz und Stilsicherheit. Piet Mondrian will die Kunst ganz ins Geistige heben. Und das will Rudolf Steiner auch. Eine Formsprache will er ent­wickeln, die zu okkultem Zeichen werden kann. Wahrnehmungsorgan – darüber sind sich alle einig – sind die fühlende Seele und das Eintauchenkönnen in Formbewegungen.
Begonnen wird damit in der Waldorfschule in der ersten Klasse. Aus Steiners pädagogischen Anregungen wird schnell klar, dass es nicht um ein exaktes Zeichnen von Strichen geht. Schon in der zweiten Klasse wird auf eine räumliche Dimension der Linie hingewiesen. Dabei handelt es sich nicht um den dreidimensionalen Raum, der uns umgibt, sondern es sind Beziehungsräume, für die die Kinder ein Gefühl entwickeln sollen. Beziehung der Formen untereinander und zum Bildraum. In Bezügen leben zu können, heißt, Verständnis für Proportion zu ge­winnen. Auch in schwierigen Situationen proportionieren zu können bedeutet letztendlich: das Gleichgewicht zu finden.
In einer Zeit, in der alles aus den Fugen zu geraten scheint, ist das ein starkes Motiv. Ebenso stark wie das Motiv der Geraden und Krummen, die sowohl in der europäischen als auch der asiatischen Kultur Utensilien des Schöpfergottes in Form von Winkelmaß und Zirkel sind. Mithilfe dieser Werkzeuge wird auch für die Kinder schöpferisches Tun möglich.
Was das Kind in seiner Versunkenheit in die Formmotive erlebt, kommt zu erster träumender Bewusstheit im Resonanzraum der Seele des Lehrers. Aus dem Zusammenklang des kindlichen und des erwachsenen Seeleninstruments stimmt das Kind seine Erfahrungen auf die Frequenz des Lehrers ein, die mehr oder weniger gesättigt, mehr oder weniger von Liebe und Ehrfurcht allem Bildnerischen gegenüber geprägt ist.