Walther Streffer

Täuschungsmanöver

Nr 236 | August 2019

In der kognitiven Tierpsychologie ist die Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen zu versetzen, ein heißdiskutierter Bereich, der bisher als typisch menschlich galt. Das soll am Lernprozess einer jungen Saatkrähe dargestellt werden.
Saatkrähen leben in Kolonien. Aufgrund ihrer guten Gedächtnisfähigkeit lernt eine junge, flügge Krähe sehr schnell alle Mit­glieder der Gruppe individuell kennen und kann sich an diese erinnern; sie erlernt die arttypischen stimmlichen Äußerungen der Artgenossen und kann so akustisch mit diesen kommunizieren.
Wenn die junge Saatkrähe satt ist, beginnt sie überzähliges Futter entweder angeborenermaßen oder durch Nachahmung in der Erde zu verstecken. Sie kann sich an Ort, Inhalt und Zeit ihrer Futterlagerung erinnern, was einem episodischen Gedächtnis entspricht. Das geschieht anfangs in sorgloser Weise, also ohne dabei auf andere Krähen zu achten. Dann aber stellt die junge Krähe zum ersten Mal fest, dass ihr Versteck geplündert worden ist – oder sie sieht, wie eine andere Krähe das Futter stiehlt. Durch diese schlechte Erfahrung beginnt der Lernprozess, beim Nahrungsverstecken darauf zu achten, ob und gegebenenfalls von wem sie beobachtet wird.
Falls sie sich nun während des Nahrungsversteckens beobachtet fühlt, gräbt sie das Futter wieder aus, um es an einen ungestörten Platz zu bringen. Durch genaues Beobachten der älteren Artgenossen lernt sie jedoch, dass es vorteilhaft ist, das Futter nicht vor den Augen der anderen auszugraben. Sie verhält sich deshalb so, als hätte sie nichts bemerkt und bewegt sich in der Nähe des Verstecks so unauffällig wie möglich hin und her. Sobald aber jene Krähe, von der sie beobachtet wurde, wegfliegt, gräbt die junge Krähe das Futter schnell wieder aus und versteckt es an einer anderen Stelle.
Eine Steigerung der neu gelernten Fähigkeit ist nun, wenn die junge Krähe Scheinverstecke anlegt, um die anderen zu täuschen, zum Beispiel statt des Futters einen Stein vergräbt. Derartige Täuschungsmanöver erfolgen stets im Einklang mit höher ent­wickelten kognitiven Fähigkeiten: Die junge Krähe kennt die Artgenossen inzwischen gut; sie lernt das Verhalten der anderen einzuschätzen, deren Absichten zu erkennen und das eigene Vorhaben durch Täuschungs­aktionen immer besser zu verbergen.
Der Fähigkeit, eigene Absichten verbergen zu können, geht vermutlich eine andere voraus, nämlich seine Absichten kund zu tun. In jedem Falle muss man sich in die Artgenossen hineinversetzen können, was zugleich ein gewisses Maß an Selbstwahrnehmung bedeutet. Aufgrund der Vorsicht und des ent­wickelten Misstrauens ahnen Krähen offenbar manche Reaktion der anderen voraus und greifen ihnen durch Täuschungsaktionen vor. Krähen scheinen mentale Repräsentationen auszubilden, was Artgenossen wissen und fühlen. So hängen verschiedene Lernfaktoren eng zusammen und zeigen, wie vielfältig die Intelligenzbildung im Tierreich auch durch Täuschung vorangetrieben werden kann.
Es konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass nicht nur Rabenvögel, sondern auch Papageien, Menschenaffen, Elefanten und Delphine sich in ihre Artgenossen hineinversetzen können. Schimpansen scheinen nicht nur vorausschauend zu planen, sondern sich auch vorstellen zu können, wie ein Artgenosse in einer bestimmten Situation handeln würde.
Besonders innerhalb von sozial lebenden Gruppen ist diese Fähigkeit sehr wichtig, und ohne sie wären Schein­handlungen, um beispielsweise Artgenossen zu täuschen, nicht möglich. Eine wichtige Voraussetzung für derart kluges Handeln ist die soziale bzw. emotionale Intelligenz der Tiere, die weltweit immer mehr Beachtung findet.