Wolfgang Held

Johannes Kepler – 400 Jahre Harmonices Mundi

Nr 236 | August 2019

Wer kurz- oder weitsichtig ist, kennt die Einteilung seiner Brillengläser in ein, zwei oder mehr Dioptrien. Sie geht auf den Astro­nomen Johannes Kepler (1571 – 1630) zurück, der in seinem Buch Dioptrice dafür das wissenschaftliche Fundament legte. Eine neue Art zu denken und zu rechnen, die von Kepler angestoßen wurde, hat ihren Ausgangspunkt in einem ganz praktischen Problem des damaligen Alltags: Wenn vor Keplers Haus ein Weinhändler vorfuhr, ließ er sich mit eigenen Flaschen und Schläuchen vom großen Weinfass etwas abfüllen. Was den Astronomen daran störte, war die Art der Messung: Vor und nach dem Abzapfen wurde eine Stange mit gleichmäßigen Markierungen ins bauchige Fass getaucht, und die abgezapfte Weinmenge wurde mithilfe dieser Markierungen berechnet. Das hieß aber: Wer bei halbvollem Weinstand bedient wird, hat Glück und erwischt den Bauch des Fasses und zahlt daher weniger. Wie also, so beginnt Kepler zu überlegen, muss die Skala beschaffen sein, um die bauchige Form des Fasses mit abzubilden? Kepler entwickelt so, beinahe nebenbei, als Erster die Integralrechnung.

Doch sein eigentliches Interesse gilt den Sternen und Planeten und der Suche nach der verborgenen Musik in ihrem Lauf. Sein Buch hierzu trägt den vollständigen Titel: Joannis Kepleri Harmonices Mundi Liberi Quinque («Johannes Keplers Weltharmonik in fünf Büchern»). Im Sommer 1619, vor 400 Jahren also, veröffentlicht Kepler das umfangreiche Werk. Die Wurzeln des Buches reichen in Keplers Jugend, denn schon als junger Mann vermutet er die platonischen Körper als Ordnungskraft für die Planeten­abstände. Nun schreibt er in seiner Vorrede zu Harmonices Mundi: «Jetzt hält mich nichts mehr zurück. Jawohl, ich überlasse mich heiliger Raserei! … Wohlan, ich schreibe ein Buch für die Nachwelt. Mir ist es gleich. Es mag hundert Jahre seines Lesers harren.»
Was ihn seit seiner Jugend antreibt, ist die Idee und die Suche, wie und wo im Weltall sich eine Harmonie finden lasse. Denn diese Harmonie sei das Echo der Schöpfung, sie zeige, dass ein Gott alles geschaffen habe – und wir, die wir die Harmonie erkennen können, seien deshalb selbst göttlichen Ursprungs. «Gott wollte die Harmonie uns erkennen lassen, als er uns nach seinem Ebenbild erschuf, damit wir Anteil bekämen an seinen eigenen Gedanken», schreibt Kepler in einem Brief. Und viele Jahre später formuliert er noch einfacher: «Die Geometrie ist einzig und ewig, ein Widerschein aus dem Geiste Gottes. Dass die Menschen an ihr teilhaben, ist mit eine Ursache dafür, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist.»

Um dieser Teilhabe willen versucht Kepler zu verstehen, warum etwa die Saiten einer Geige oder Gitarre wohlklingen, wenn ihr Längenverhältnis 2 : 3 oder 1: 4 ist, aber nicht, wenn ihr Verhältnis 2 : 7 beträgt. In seiner «Weltharmonik» schlägt er die Brücke von der Geometrie zur Musik. Verhältnisse, die schön klingen, so zeigt Kepler, sind diejenigen, die sich konstruieren lassen. Was in seiner Seele als die Liebe zu Pythagoras und dessen Idee von Harmonie und Freundschaft der Dinge lebt, will Kepler mit seinem wachen, nüchternen mathematischen Geist zusammenbringen. «Ich will nichts aus der Mystik der Zahlen beweisen und halte dies auch nicht für möglich», so grenzt er sich von den vielen Zahlenspekulationen der damaligen Zeit ab – und sucht auf Umwegen und manchmal auch Irrwegen, die Schönheit und Harmonie des Weltalls, von der er so überzeugt ist, zu beweisen.
Es ist nicht nur die Spannung zwischen altem spirituellem Wissen und moderner, auf Beweis und Rechnung fußenden Wissenschaft, die an Kepler zerrt. Gleiches gilt auch persönlich. Gerade in den Jahren der Veröffentlichung von Harmonices Mundi ist er in eine Vielzahl schwerer Probleme, Tragödien und Herausforderungen verstrickt. In der Welt bahnt sich der Dreißig­jährige Krieg an, und Kepler warnt in seinen Kalendern, die damals immer auch einen astrologisch-prophetischen Teil hatten, vor der religiösen Rechthaberei und dem Abgrund, der sich dadurch auftut. Er selbst verliert dadurch – zu seinem großen Leid – die Erlaubnis, am kirchlichen Abend­mahl teilzunehmen. 1618 ist Linz sein Lebens­ort, und dort ereilt ihn die Nachricht, seine Mutter werde durch vielfältigen Rufmord angeklagt, eine Hexe zu sein. Er muss immer wieder nach Württemberg eilen, um sie mit all seiner Autorität als Europas führendem Astronom vor Gericht zu verteidigen. Außerdem verlieren er und seine zweite Frau in diesen Jahren zwei Kinder in frühestem Alter.

All diese düsteren Wolken halten ihn jedoch nicht davon ab, an eines der tiefen Geheimnisse des Kosmos zu rühren: Warum laufen die Planeten gerade so und nicht anders um die Sonne? Verborgen in all den harmonischen und geometrischen Über­legungen findet sich im Werk Harmonices Mundi das heute sogenannte «3. Keplersche Gesetz»: «Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die Kuben der großen Halbachse der Ellipse». Das klingt kompliziert, zeigt aber zugleich Keplers geniale Art zu denken. Wieder nimmt er zur Erklärung der Phänomene eine höhere Perspektive ein. Jetzt, in den Harmonices Mundi, will er seiner Jugendidee, dass die einzelnen Planetenbahnen untereinander in Beziehung stehen, die Treue halten; also vergleicht er sie miteinander. Dabei entdeckt er, dass die Quadrate der Umflaufzeiten der Planeten der dritten Potenz, also den Kuben, der mittleren Abstände zur Sonne entsprechen. Kepler macht die Zeit zur Fläche, und die Abstände macht er zum Raum. Im doppelten Sinne nimmt er eine höhere Perspektive ein und findet so den geheimnisvollen Zusammenhang von Sonnenabstand und Umlauf­geschwindigkeit der Planeten. Welch ein Einfall!

Johannes Kepler, der an der Schwelle zur Neuzeit steht und zu den Begründern der modernen Wissenschaft gehört, repräsentiert die Verbindung von Ideenkraft und mathematischer Präzision. Dass er es dann bei seinen vielen Überlegungen zur Harmonie im Planetensystem zuließ, dass sich Ungenauigkeiten in die Zahlen schlichen, zeigt vielleicht auch eine Sehnsucht in ihm, in einer rationalen Wissenschaftswelt den Hymnus auf eine harmonisch aufgebaute Schöpfung – in der Nachfolge der griechischen Astronomen und Philosophen Pythagoras, Proklos und Ptolemäus – nicht verklingen zu lassen.