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Anne Overlack

«Wo finde ich den Mann für ein Liebesgedicht?»

Nr 237 | September 2019

Eichendorff-Literaturpreis 2019 für Christa Ludwig

Am 22. September 2019 erhält Christa Ludwig für ihren grandiosen Else Lasker-Schüler-Roman Ein Bündel Wegerich den Eichendorff-Literaturpreis, der seit 1956 alljährlich vom Wangener Kreis verliehen wird. Die Preisverleihung findet im Rahmen der Wangener Gespräche statt.

Else Lasker-Schüler ist eine der großen Lyrikerinnen der deutschen Sprache, und ganz nebenher noch eine faszinierende Persönlichkeit. Mit ihrer unkonventionellen Extra­vaganz war sie der Star der literarischen Bohème im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts. Aber Lasker-Schüler war nicht nur die Schöpferin grandioser Liebesgedichte, in ihrer Ver­kleidung als Prinz Jussuf von Theben nicht nur ein in der Szene gefeierter Bürgerschreck, sie war auch Jüdin. Wer sich ihre Lebensdaten vergegenwärtigt – 1869-1945 – dem wird rasch bewusst, dass diese Dichterin auch eine Verfolgte gewesen sein muss.
Dabei hatte Lasker-Schüler mehr Glück als die 25 Jahre später geborene Gertrud Kolmar, gleichfalls Jüdin, gleichfalls große Dichterin, die 1943 in den Konzentrations­lagern der Nazis ermordet wurde. Lasker-Schüler, die so bedingungslos lieben wie abgrundtief hassen konnte, wusste früh um das Wesen der Nazis und verließ das Deutsche Reich schon im April 1933, zunächst in Richtung Schweiz, die ihr für einige Jahre ein prekäres Exil bot. Nach zwei Palästina-Reisen landete sie kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ungewollt für immer in Jerusalem.
Hier, in diesen letzten Lebensjahren der Dich­terin, spielt Christa Ludwigs Roman Ein Bündel Wegerich, der eine Art fiktive Autobiografie der jüdischen Dichterin ist. Dabei gelingt Ludwig der Lasker-Schüler-Ton geradezu kongenial in der Fiktion eines autobiografischen Dokuments, das ein späterer Herausgeber durch beschreibende und die Situation erklärende Zusätze aufbricht. Tasso nennt Lasker-Schüler diesen jungen Verehrer, der sich ihr ehrfurchtsvoll nähert und zum Vertrauten der letzten Lebensjahre wird. Einfühlsam beschreibt Ludwig die Entourage von Lasker-Schüler, ihre Freunde und die um ihr Wohl so rührend besorgten Verehrer. Damals lebte man noch in einer Welt, in der Lyrik-Liebhaber ihre Leidenschaft für ein großes Gedicht bereitwillig auch auf dessen Schöpferin übertrugen.
Tasso, der in Ludwigs Roman die Lasker-Schüler Kladden an sich nimmt und sie Jahrzehnte später herausgibt, unterbricht die «autobiografischen» Notizen jeweils durch beschreibende und einordnende Kommentare, die dem Leser helfen sollen, in das Jerusalem der vierziger Jahre hineinzufinden. Wie lebten Araber und Juden damals mit­einander? Wie verhielten sich die Briten?
Wie gefährdet waren selbst die Juden, denen die Flucht aus dem Dritten Reich bereits gelungen war? Hier scheinen Tragödien auf, an denen nicht nur die fiktive Figur der Dichterin nachvollziehbar leidet.
Dass die Leser unversehens Bezüge zu ihrer eigenen Gegenwart stiften, konnte von der Autorin, die sich über zwei Jahrzehnte mit dem Thema beschäftigt hat, beim Schreiben ihres Romans noch nicht beabsichtigt ge­wesen sein und hat sich sozusagen als Nebenwirkung ergeben, so etwa wenn wir vom Schicksal des vielfach überladenen Passagierdampfers Struma erfahren, dem die britische Mandatsmacht die Weiterfahrt nach Israel untersagt. Stattdessen schleppen die Türken auf Betreiben der Briten das kaum mehr seetüchtige Schiff aus dem Hafen von Istanbul aufs offene Meer, wo es von den Russen torpediert wird. 781 jüdische Flüchtlinge und zehn Besatzungsmitglieder ertrinken im Schwarzen Meer.
In ihrem hochpoetischen Roman gelingt Christa Ludwig neben dem überzeugenden Zeitpanorama zugleich ein sensibles Porträt der alternden Dichterin, die sie als in sich versponnene große Liebende zeichnet, die all die Hassenden endlich miteinander versöhnen möchte und davon träumt, noch einmal ein vollendetes Liebesgedicht zu schreiben. In Ludwigs berührendem Roman spielt sie eine traurig-anrührende Rolle als die Seele aller Verzweifelten.