Jean-Claude Lin und Maria A. Kafitz im Gespräch

a tempo – Zeit für Neues

Nr 238 | Oktober 2019

Wir treffen uns an einem herrlichen Spätsommernachmittag in der Stadt am Ende eines in vielerlei Hinsicht «hitzigen Sommers», um ein Interview zu führen. Nicht wie sonst mit interessanten Menschen, mit denen wir normalerweise so gerne für a tempo ins Gespräch kommen, sondern mit uns selbst. Herausfordernde und zugleich positiv aufregende Veränderungen in unserem «Magazinleben» stehen an, die nach 20 Jahren des Vertrauten im 21. Jahrgang auch Neues für unsere Leserinnen und Leser bedeuten …

Maria A. Kafitz | Lieber Jean-Claude, wir können auf 20 Jahre Magazingeschichte zurückblicken. Das ist in unserer schnelllebigen Zeit durchaus bemerkenswert. Bevor wir aufs Neue zu sprechen kommen – der erste Jahrgang eröffnete in den Interviews ja stets mit der Frage: «Wie kommt das Neue in die Welt?» –, lass uns einen kurzen Blick zurückwerfen. Wie begann denn die Geschichte von a tempo?
Jean-Claude Lin | Die Ausgangsfrage damals war, wie unsere Bücher von den Menschen entdeckt werden können. Wie die Bücher vom Verlag Freies Geistesleben und vom Verlag Urachhaus überhaupt noch gefunden werden, wenn immer weniger Menschen in die Buchhandlung gehen. Wir hatten davor eine kleine Zeitschrift, die hieß Von neuen Büchern, in der über unsere Autoren und ihre Werke berichtet wurde. Nun war die Frage, ob das nicht wieder aufgegriffen werden könnte. Ich war davon überzeugt, dass wir nichts Altes wiederholen, sondern eine neue Art von Publikation entwickeln müssten, die zwar unsere Bücher und Autoren als Herzstücke der Verlage enthält, aber dennoch kein reines Werbemittel sein darf. Es sollte ein Magazin werden, das Neugier und Interesse weckt – und zwar über die Bücher hinaus, die wir zu bieten haben. Das war unsere Idee und ist noch heute unsere Intention.

MAK | Ihr wolltet also zum Lesen und Denken verführen und nicht nur zum Kauf von guten Büchern. Und ihr wolltet zudem neue Leute erreichen. Bei mir hat das ja schon mal funktioniert, denn ohne a tempo hätte ich mich nicht bei euch beworben. Meine Mutter hatte mir damals einige Ausgaben des Magazins mit dem augenzwinkernden Hinweis geschickt: «Schau, wie weit die ‹Anthros› aufmachen können! Wie vielfältig und unverstaubt ihre Themen sind. Wäre das nicht was für dich?» Ich gestehe, dass ich in der Tat positiv überrascht war – und so angetan, dass ich mich schließlich, als Stuttgart Ortsthema in meinem Leben wurde, ja auch bei euch am Ende des ersten a tempo-Jahrgangs beworben habe. Ich hatte damals den Eindruck – und das ist heute immer noch so –, dass dieses Magazin ein mutiges und weites Themenherz hat.
JCL | Das genau sollte und wollte a tempo haben, diese Weitherzigkeit für die Welt und für das Leben. Das sollte a tempo von Anfang an ausstrahlen. Insofern ist dein Beweggrund, zu uns zu kommen, eine schöne Bestätigung für das eigentliche Ansinnen, das zur Gründung des Magazins führte.

MAK | Und warum der Name a tempo?
JCL | Ich habe schon als Jugendlicher und dann immer mal wieder den Gedanken gehabt, ein Magazin zu machen, und daher auch vielfältig mit verschiedenen Inhalten und Namen gespielt. Denn natürlich muss so ein Magazin einen guten Namen haben. Ich habe eine ganze Seite voller Möglichkeiten notiert und dabei tauchte auch «a tempo» auf. Das war nicht ganz zufällig.
Der Begriff stammt eigentlich aus der Musik. Wenn die Bezeichnung «a tempo» kommt, meint dies als Spielanweisung: zurück zur ursprünglichen Geschwindigkeit. Man hat ein Stück und das hat ein gewisses Grundtempo. Dann wird es für eine bestimmte Passage langsamer oder schneller – und schließlich heißt es wieder «a tempo», also zurück zur Ursprungsgeschwindigkeit. Das, meinte ich, sei etwas sehr Sinnvolles. In unserem Verhältnis zur Zeit hatte sich ja auch etwas dramatisch verändert. Schon Ende der 1990er-Jahre war viel die Rede davon, dass alles hektisch ge­worden sei, man nicht mehr atmen könne und dass man das Leben wieder langsamer gestalten müsse. Dem widersprach ich nicht. Aber ich hatte außerdem den Eindruck, dass es nicht nur darum gehen könne, das Leben wieder langsamer zu machen. Wir brauchen auch Schnelligkeit, das Spannende, das Temperamentvolle. Und das hat eben eine andere Geschwindigkeit. Wir müssen also die Beweglichkeit lernen, beides sein zu können. Und mehr noch: Jeder Mensch braucht zu verschiedenen Zeiten seines Lebens ein anderes Tempo, eine andere Geschwindigkeit, einen anderen Rhythmus. Was das Ursprüngliche ist und in welchem Tempowechsel es sich vollzieht, das kann nur jeder Einzelne für sich selbst entscheiden. a tempo trägt all das in sich.
Das ist die inhaltliche Bedeutung des Namens. Aber die Frage ist ja auch: Wie taucht so ein Begriff überhaupt im Bewusstsein auf? Man kann eine Idee nicht erzwingen. Sie kommt einfach, weil man ihr Raum gegeben hat. Meinen Raum schien ich geschaffen zu haben, als ich ein Kinderbuch aus dem niederländischen Verlag Leopold kennengelernt hatte, das ich unbedingt im Verlags­programm haben wollte. Es heißt Lang lebe die Königin und stammt von Esmé Lammers, der Enkelin des ersten und einzigen niederländischen Schachweltmeisters, Max Euwe. In diesem Buch geht es um Schach. Ich hatte lange Jahre kein Schach mehr gespielt, aber aufgrund dieses Buches habe ich wieder damit angefangen. Vor allem habe ich mich zum ersten Mal ein bisschen systematischer damit auseinandergesetzt und mir beispielsweise Eröffnungsstrategien angeschaut. Immer wieder tauchte dabei ein Begriff auf: nämlich, dass ein Zug «mit Tempo» gezogen und gespielt wird – oder eben nicht. Man kann «Tempi» auch verlieren. Das ist schlecht, dann überlässt man dem anderen die Initiative. Diese Berührung mit den Begriffen «Tempo» und «Tempi» hat in jener Zeit, als wir vor der Frage standen, ob und wie ein neues Magazin für unsere beiden Verlage entstehen kann, eine sehr große Rolle gespielt. Dank des Schachspiels ist der Name «a tempo» wohl erst als Idee ins Bewusstsein gestiegen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

MAK | Mithilfe eines Brettspiels werden wir die nahenden Veränderungen jedoch kaum lösen können. Dafür brauchen wir unsere Leserinnen und Leser, denen wir unser Magazin nach 20 Jahren nicht mehr kostenlos werden schenken können. Wir hoffen also auf zahlreiche Abonnenten – und natürlich auch darauf, das die eine oder andere Buchhandlung, der eine oder andere Laden uns weiterhin anbieten wird. «Schachmatt» sind wir noch lange nicht, aber die wirtschaftliche Wirklichkeit fordert für die Zukunft unseres Magazins durchaus neue Spielarten.
JCL | Ja, es ist ein Wagnis, aber wir haben die besten Voraus­setzungen, um dieses Wagnis einzugehen. Wenn wir jetzt ganz neu ein Magazin gründen wollten, auf wen könnten wir uns stützen? Im Lauf dieser 20 Jahre haben mir – und du kennst das ja auch von den Anrufen und Zuschriften in der Redaktion – viele Menschen gesagt, wie sehr sie unser Magazin schätzen und sich jeden Monat darauf freuen. Ich bin immer wieder tief berührt, wenn mir jemand von einer Geschichte erzählt, die er vor vielen, vielen Jahren bei uns gelesen hat und immer noch intensiv erinnert. Wir haben also einen im besten Sinne nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ich vertraue auf die Aussage der Menschen, die mir sagen: «a tempo darf es nie nicht mehr geben!» Die Möglichkeit, uns auch zukünftig zu lesen, soll es weiterhin geben – und für 12 Ausgaben sind 40 Euro im Jahr eigentlich auch nicht überbordend viel. Daher bin ich zu­versichtlich, dass wir tatsächlich viele Abonnenten bekommen werden.
Dass all dies im 21. Jahr des Bestehens von a tempo stattfindet, empfinde ich als etwas, was durchaus seine Richtigkeit hat. Mit 21 Jahren wird man eben mündig und kommt mit seiner Individualität, seinem Ich, ganz auf der Erde an. Das muss a tempo nun auch. Es ist behütet aufgewachsen wie ein Kind – und jetzt muss es sein eigenes Leben ergreifen.

MAK | Kontinuität und Wandel – dieses Begriffspaar hatte ich in der September-Ausgabe genutzt, in der wir erstmals deutlicher auf die notwendigen Veränderungen hingewiesen haben. Wandel und Kontinuität wird auch unseren neuen Jahrgang inhaltlich prägen.
JCL | Es ist ohnehin bemerkenswert, wie viel Kontinuität wir in unserem Magazin haben. Wenn ich bedenke, wie oft andere Zeitschriften ihr Aussehen, ihre Akzente ändern, hat a tempo eine erstaunliche Konstanz, die dennoch immer auch mit Bedacht verwandelt wurde. Wir haben auch einige unserer Autoren und Beitragenden der ersten Ausgabe immer noch dabei: Wolfgang Held etwa, der seine beliebten Artikel über das Verhältnis von Mensch und Kosmos seit Beginn schreibt und immer noch Unerwartetes zu erzählen weiß. Oder Markus Sommer, unser Arzt, mit seinen fabelhaften Beiträgen in der Rubrik «Sprechstunde», die so detailreich und informativ und dennoch leicht und zugänglich zu lesen sind. Und natürlich Wolfgang Schmidt, unser Fotograf, der schon das erste Titelfoto für uns machte und hoffentlich noch viele weitere wunderbare Fotos für uns machen wird. Es ist schon ein Geschenk, dass wir dieses Verhältnis zu den Menschen, die für a tempo wirken, haben entwickeln können.

MAK | Ja, das ist wahrlich ein Geschenk – und es ist zugleich eine wunderbare Heraus­forderung, die jeden Monat neu beginnt. Als wir unsere 100. Ausgabe im April 2008 gefeiert haben, gab es an uns alle den Auftrag, 100 Worte zu a tempo zu schreiben. Ich schrieb damals: «Zuerst sind da 40 leere Seiten und nie wirklich genug Zeit … Dann treffen die ersten Texte ein, die es zu redigieren oder selbst zu schreiben gilt. Die wunderbaren Fotos folgen. Und mit ihnen beginnt ein Komponieren ohne Noten. Das Komponieren von Wort und Bild, Gedanke und Form … Manchmal ist die Verbindung schnell geschaffen, manchmal bedarf es einer gewissen Suche. Jeden Monat stellt sich diese Herausforderung neu. Jeden Monat warten wieder 40 leere Seiten und Texte und Bilder. Dies zu tun ist nicht nur meine Arbeit oder ein Teil meines Berufs – es ist beizeiten mehr: bewegende Vielfalt – gelebte Freude.»
Nun wird mit dem neuen Jahrgang diese Freude ja noch größer, denn aus den damals 40 und im Moment nur noch 32 werden ab der Januar-Ausgabe 48 Seiten werden, die darauf warten, dass ein Magazin aus ihnen wird. Sollen wir schon verraten, was es an Neuem neben dem Vertrauten geben wird, wie zum Beispiel die Serie über Erfinder?
JCL | Einiges können wir durchaus schon verraten: Es wird einige neue, ganz unterschiedliche Rubriken geben, zudem wieder eine Preisrätsel- und Sudoku-Seite. Und dass wir die Erfinder jetzt für den 21. Jahrgang haben werden, das finde ich sehr schön. Das ist schließlich ein Urthema von a tempo. Du hast ja schon erwähnt, dass unsere ersten Interviews immer mit der Frage, woher das Neue kommt, begonnen haben. Wolfgang Held, der auch weiterhin über die Sterne schreiben wird, reizt diese neue Aufgabe. In Daniel Seex, der uns in diesem Jahr bereits mit seinen «illustren Gästen» begeistert, hat er einen genialen Partner, der die Erfinder hintersinnig ins Bild bringen will. Mit Reneé Herrnkind begrüßen wir eine neue Stimme im Magazin, die mit Humor darüber schreiben wird, was wir vom Verhalten der Tiere lernen könnten. In der Kolumne «Warum ich ohne Kafka nicht leben kann?» wird sich Elisabeth Weller unerschrocken den Klassikern der Literatur widmen, während sich Brigitte Werner mit viel Gefühl dem Wunder der Begegnung nähert. Auch im Bereich Essay wird es zusätzliche Beiträge geben, denn Albert Vinzens hat Gefallen an dieser Textart gefunden und will den Zeichen der Zeit nachgehen. Welche Fragen die Zeit uns Menschen sonst noch stellt und wie wir sie gestalten können, das werden wir auch in unseren Interviews und Reportagen vertiefen …

MAK | … und nicht nur das: In den Repor­tagen bekommen die schönen und im Grunde schon selbst eine Geschichte erzählenden Fotos von Wolfgang Schmidt endlich wieder mehr Raum! Darauf und auf vieles andere freue ich mich sehr. Und du, Jean-Claude, Angst vor 2020 oder auch Lust aufs Neue?
JCL | Lust aufs Neue! Was vor uns liegt, ist eine herrliche Aufgabe!