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Livia Bitton-Jackson

Die lange Suche nach einer Heimat

Nr 238 | Oktober 2019

Im Jahr 1951 brach Livia Bitton-Jackson von Bremerhaven nach New York auf. Bis dahin hatte die 1931 geborene junge Frau bereits mehr erlebt, als man sich in einem einzigen Leben vorstellen kann – und definitiv mehr, als man in einem einzigen Leben erleben möchte. Mit 13 Jahren wurde sie nach Auschwitz verschleppt – und ausgerechnet Josef Mengele, dem für seine grausame und menschenverachtende Art bekannten Lagerarzt, verdankte sie ihr Leben. Der Grund: ihr blondes Haar. Auf Auschwitz folgten weitere Lager, unter anderem Dachau. Auch das überstand sie aufgrund ihres ungebrochenen Willens, zu leben. Als sie nach Kriegsende bald spüren musste, dass sich in ihrer alten Heimat und überhaupt in der «Alten Welt» kaum etwas an den Ressentiments gegenüber den Juden geändert hatte, wurde ihr Wunsch immer deutlicher: Es musste die «Neue Welt» sein. Amerika – das Land, das damals noch für viele Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben waren, offene Grenzen hatte.

In Hallo Amerika!, dem letzten Teil ihrer dreibändigen Autobiografie, beschreibt sie, wie sie New York erreicht und tatsächlich schnell eine Heimat in den USA findet.
«Es dämmert schon, als die USS General Stewart den Nebel zerteilt und auf den New Yorker Hafen zusteuert. Mit ange­haltenem Atem sehe ich die Küste näherkommen. Ein feuchter Wind klatscht mir die Haare gegen die Wangen, und meine Finger fühlen sich ganz taub an, so fest umklammere ich die Reling – und damit die Realität. Träume ich? Oder stehe ich wirklich auf dem Oberdeck dieses Schiffes, das sich immer näher an Amerika heranschiebt? Heute ist Sabbat, genau wie bei unserer Abfahrt vor acht Tagen. Wir haben unsere Reise am heiligen Sabbat begonnen und beenden sie auch am Sabbat. Ist das eine göttliche Botschaft? Ein Omen?
Die See hier vor der Küste ist ruhig, und ich fühle mich großartig. Ich bin nicht mehr seekrank. Der aufgewühlte Ozean mit seiner unendlichen Majestät liegt hinter uns, aufgespannt über dem Abgrund zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Zwischen unserer Heimatlosigkeit in Europa und der Verheißung einer Heimat in Amerika.
Amerika, wirst du mir ein Zuhause werden? Wirst du mich empfangen wie eine Tochter, die ihren Platz finden und gleichberechtigt dazugehören will? Oder muss ich für immer die Fremde bleiben, die ich auf der anderen Seite dieses Meeres war? Wirst du mir meinen innigsten Wunsch erfüllen, nämlich den, wieder studieren zu dürfen? Wirst du es mir ermöglichen,
tatsächlich Lehrerin zu werden?
Oder sind das nur wilde Fantasien?
Der Hafen ist jetzt schon recht nah, und ich sehe, wie sich der Umriss eines Monuments aus dem Nebel schält. Die Freiheitsstatue! Kein Zweifel. Während das Schiff auf unser Kai zusteuert, taucht sie in voller Pracht aus dem Dunst auf. Wie schön sie ist! Ich kann sie jetzt klar erkennen. Ich sehe ihre rechte Hand, in der sie die berühmte Fackel hält – die Fackel der Freiheit.
Auch andere haben die Statue erblickt, und aus den Reihen der herandrängenden Flüchtlinge erhebt sich freudiges Geschrei. Etliche Männer reißen sich die Mütze vom Kopf, jemand fängt an zu singen, und das Geschrei verwandelt sich in viele verschiedene Lieder, viele verschiedene Hymnen – ein bunter Strauß an Melodien, die in den Dunst über uns aufsteigen.»


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Livia Bitton-Jackson ist eine der letzten Überlebenden des Holocaust. 1931 als Elli L. Friedmann in der Tschechoslowakei geboren, war sie dreizehn Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder nach Auschwitz verschleppt wurde. Sechs Jahre nach der Befreiung gelangte sie 1951 in die Vereinigten Staaten, wo sie an der New York University in den Fachbereichen Hebräische Kultur und Jüdische Geschichte promovierte. Heute lebt sie in Tel Aviv.
Ihre dreibändige Autobiografie, enthaltend die Bände «1000 Jahre habe ich gelebt. Eine Jugend im Holocaust»; «Brücken der Hoffnung. Ein Leben nach Auschwitz» und «Hallo Amerika! Eine Reise in die Freiheit» sind in der Übersetzung von Dieter Fuchs im Verlag Urachhaus erschienen.