In Zürich aufgewachsen, war Jacqueline Zünd von Kindheit an mit unbändigem Fernweh erfüllt. Nach ausgedehnten Reisen und zwei Jahren Print-Journalismus, studiert sie in London Film, arbeitet zwei Jahre lang für ein Popkulturmagazin im Schweizer Fernsehen («die haben sehr viel Freiheit und Experiment zugelassen»). Danach folgen Werbefilme «für Greenpeace oder die ETH, für die ich mich nicht schämen musste» und parallel One-Channel-Videofilme, die auf Kunstvideo-Festivals gezeigt wurden. Ich treffe sie im Züricher Filmkulturzentrum Kosmos.
Kurzportraits ihrer drei großen Kinofilme: 2012: «Goodnight Nobody». Ein Film über vier Insomniacs, also Menschen mit extremer Schlaflosigkeit. Gedreht in der Ukraine (Fedir), in China (Lin Yao), in den USA (Mila) und in Burkina Faso (Jérémie). 2016 «Almost There». Ein Film über drei Männer, die im Herbst ihres Lebens noch einmal zu Suchenden werden. Gedreht in Spanien (Steve), in den USA (Bob) und in Japan (Yamada). 2019 «Where We Belong». Ein Film über Trennungskinder. Gedreht in der Schweiz mit den Zwillingen Alyssia und Ilaria, dem Geschwisterpaar Sherazade und Carleton und dem Bauernjungen Felix.
Ralf Lilienthal | Sie haben drei abendfüllende Dokumentarfilme gedreht – war der Spielfilm bislang keine echte Option?
Jacqueline Zünd | Ich mag die Unterscheidung Spielfilm / Dokumentarfilm nicht. Natürlich geht es um echte Menschen, eine reale Story, aber ich versuche immer so zu erzählen, als wäre es auch ein Spielfilm. Die Genres lösen sich mittlerweile etwas auf. Die Hauptsache ist immer, man erzählt eine gute Geschichte.
RL | Wie entstand die Idee zu Ihrem ersten großen Film Goodnight Nobody und wie lange dauerte die Arbeit daran?
JZ | Das war ein Familienthema. Meine Mutter war ein extremer Insomniac, sie ist die ganze Nacht durchs Haus getigert. Das war schon ein Gesprächsthema, als ich noch Kind war. Wie konnte man etwas so Natürliches verlernen wie den Schlaf? Das war so, als würde man verlernen zu lachen. Als mein Sohn zur Welt kam und ich deswegen nächtelang kaum schlafen konnte, wurde mir erst bewusst, was für ein Leiden das ist – und ich wollte verstehen, wie man das aushalten kann. Fünf Jahre haben wir an dem Film gearbeitet. Vor allem das Casting war enorm aufwendig. Man sucht auf allen Ebenen. Fedir habe ich über einen Zeitungsartikel gefunden. Der war in der Ukraine schon ein Medienstar und wurde von Expertenteams aus der ganzen Welt untersucht. Nach Shanghai sind wir durch eine schlaflose Schriftstellerin gekommen. Sie war davon überzeugt, dass sie, wenn sie die Liebe ihres Lebens findet, auch wieder schlafen können würde. Als dann alles abgesprochen und organisiert war und wir mit ihr drehen wollten, hat sie sich tatsächlich verliebt und wollte nichts mehr von uns wissen. Dann standen wir in dieser fremden Millionenstadt und haben verzweifelt nach einem Schlaflosen gesucht, der eine wirkliche Geschichte zu erzählen hat. Das muss man aushalten können. Dabei habe ich eine Erfahrung gemacht, die sich später wieder und wieder zutrug. Als wir eigentlich schon resigniert hatten und abfliegen wollten, tauchte, wie von unserer Verzweiflung gerufen, die Studentin Lin Yao auf …
RL | … und es fanden sich weitere Figuren ein, die man eigentlich nur als Archetypen bezeichnen kann und die, wären sie fiktional, als wenig realistisch erscheinen würden, wie insbesondere Jérémie aus Ouagadougou.
JZ | Ja, er selbst hat für diesen Archetypus auch den richtigen Begriff gefunden. Er war Nachtwächter eines kleinen Theaters, «gardien de nuit», hat aber stets gesagt, er sei der «gardien de la nuit», der Wächter der Nacht. Es ist auch interessant, welche Wendungen mit scheinbar zufälligen Begegnungen verbunden sind. Almost There, mein zweiter Film, sollte eigentlich eine Geschichte über die abbröckelnde Fassade und die Nachsaisonstimmung im Badeort Benidorm an der berühmten Costa Blanca werden. Ich habe dann so vielen einsamen Menschen Stunde um Stunde zugehört und bin am Ende geradezu depressiv geworden, dass ich mich nur noch betrinken und das Projekt beerdigen wollte. In der Bar trat dann der Stand-up-Comedian Steve auf und das ganze Projekt bekam ein ganz neues Gesicht.
RL | Das geht offensichtlich nur, weil der Kern Ihrer Filme nicht ein Plot, eine Handlungsidee ist.
JZ | Genau. Ich versuche vielmehr einen inneren Zustand zu transportieren. Es geht immer um ein Gefühl. Bei Almost There, aber eigentlich bei allen Filmen, geht es um die Einsamkeit. Die langen einsamen Nächte, die Einsamkeit am Ende des Berufslebens. Bei den Kindern war es die Einsamkeit ab dem Moment, wo die Eltern wegfallen.
RL | Auch das Verfließen der Zeit ist, zumindest in den ersten beiden Filmen, ein Thema – oder mehr noch eine bestimmte «Erzählweise». Goodnight Nobody war sehr schwer auszuhalten, die langen Nächte wurden zu meinen eigenen Nächten. Nicht anders die Zähigkeit der Reise mit Bob oder die ereignislosen Straßen und Plätze Benidorms.
JZ | Ja, das stimmt. Alle haben gesagt, du spinnst, du kannst doch nicht die Leute so quälen und einen Film so langsam ablaufen lassen. Aber all das mitempfinden zu lassen, war genau meine Absicht. Doch es kommen ja immer andere Dinge dazu. Nachdem ich in Benidorm mit all diesen Leuten gesprochen habe, wusste ich, auch Steve alleine reicht nicht. Aber Steve war ein Suchender und vielleicht würde ich andere Geschichten finden, die von der Suche handeln. Dann habe ich von dieser Wüste in Amerika gelesen, wo sich von November bis Februar die Rentner mit ihren Wohnmobilen treffen, die «Snow Birds». Sie reisen der Sonne nach und besetzen dann ein Stück Wüste. Eine Subkultur mit vielen echten Aussteigern. Die haben hinten an ihren Autos einen Aufkleber: «nothing left». Sie definieren sich so, denn es soll am Ende nichts übrig bleiben, sie haben dann alles aufgebraucht.
RL | Almost There ist ein Film über drei suchende Männer. Was kein Zufall ist – oder?
JZ | Anfangs war ich nicht festgelegt, aber irgendwann war klar, warum es ein Film über Männer werden musste. Männer dieser Generation sind wahnsinnig einsam, weil sie nicht über ihre Gefühle und Ängste reden können. Bei Yamada war das besonders krass, weil Männer in seiner Kultur überhaupt nicht gewohnt sind zu sprechen. Aber er hatte uns gegenüber nichts zu verlieren, weil wir aus einer fremden Welt kamen. Also hat er einfach geredet. Seine Frau saß in einer Ecke des Raums und hat geweint, weil sie niemals vorher eine wirklich persönliche Geschichte von ihm gehört hatte. Es war wie bei einer Psychotherapie, die ihm geholfen hat, seinen Kummer loszuwerden. Auch Bob hat viel geredet. Seine Lakonie war wirklich ein Geschenk. Er war so etwas wie ein Anti-Held. Die Fahrt mit ihm – das war der härteste Dreh. Auch für ihn selbst. Er musste ja seine Reise für uns noch einmal machen. Wir nahmen eine andere Strecke, damit er wieder in die Ungewissheit kam, ins Unbekannte. Damit kam aber auch die Erinnerung an viele negative Emotionen des ursprünglichen Trips – das konnten wir ihm nicht ersparen. Es ist schon immer ziemlich anstrengend, mit uns zu arbeiten.
RL | Als Zuschauer vergisst man beinahe, dass es im Hintergrund den Kameramann und die Regisseurin gibt – Zeichen für die Qualität Ihrer Filme. Aber sicherlich auch ein schwer zu lösender Konflikt?
JZ | Wenn du mit Menschen zusammenarbeitest, die nach Sinn suchen, dann bist du für eine gewisse Zeit dieser Sinn. Auch bei den Insomniacs: Die waren so froh, dass mal etwas läuft in der Nacht. Diese Verantwortung nimmt man dann auf sich. Und je länger ich das mache, desto mehr wird mir bewusst, wie stark man doch solche Leben beeinflusst und verändert, ob man das will oder nicht.
RL | Was hat Sie zu Where We Belong inspiriert, einem Film, der ausnahmsweise einmal nur in der Schweiz spielt?
JZ | Ich habe selbst einen Sohn, der zwischen mir und seinem Vater pendelt – also ein Trennungskind. Trennung ist ein noch immer tabuisiertes Thema, über das kein Betroffener gerne spricht. Aber was zwischen den Eltern geschehen war, interessierte mich nicht. Ich wollte mit den Kindern sprechen. Das tun sie nämlich gerne und sie haben dabei ganz andere Perspektiven als ihre Eltern. Wie viel sie wahrnehmen! Sie haben so versöhnliche Aspekte, fast philosophisch. Wie sehr sie sich um ihre Eltern kümmern, wie sehr sie sich daran orientieren, wie es ihren Eltern geht, wie sehr sie ihre Bedürfnisse hintenanstellen. Es ist eigentlich umgekehrt, wie es sein müsste. Das war mir nicht bewusst gewesen, auch nicht bei uns selbst. Umso mehr war mir wichtig, dass die Kinder stark gezeichnet werden und nicht als Opfer dastehen.
RL | Eine letzte Frage: Wer steckt hinter dem «wir», das immer auftaucht, wenn Sie über die Entstehung Ihrer Filme sprechen?
JZ | Mein Kameramann, Nikolai von Graevenitz, ist mein filmisches Alter Ego. Wir entwickeln die Filme immer zusammen. Er ist schon bei der Recherche und bei der Auswahl der Protagonisten dabei. Das ist eine ganz nahe Zusammenarbeit. Wir haben so etwas wie eine gemeinsame Bildsprache entwickelt. Und eine Freundschaft, bei der man gar nicht mehr so viel reden muss.