Jean-Claude Lin

Ohne Gott und Unsterblichkeit – aber mit dem anderen Menschen

Nr 239 | November 2019

Die vielen Gesichter der Mary Anne Evans

«Middlemarch ist wohl der größte englische Roman», meinte der weltweit geschätzte britische Schriftsteller Julian Barnes in einem Interview für The Paris Review im Winter 2000. Zehn Jahre später äußerte sich der jüngere Kollege Martin Amis in einem Interview über den Krieg der Geschlechter in der Tageszeitung The Times vom 24. Januar 2010 noch dezidierter: die Frauen hätten «den größten Schriftsteller überhaupt der englischen Sprache hervorgebracht: George Eliot» – und ebenso «gewiss den größten Roman: Middlemarch». Die beiden Herren blieben mit ihrer Einschätzung nicht allein, wie die Tageszeitung The Guardian herausfand und es am 8.12.2015 veröffentlichte, denn von den 81 gefragten renommierten Literaturkritikerinnen und -kritikern aus aller Welt (außer Großbritannien) wurde Middlemarch von George Eliot auch mit überragender Mehrheit als der «best British novel of all time», der beste britische Roman aller Zeiten, gewertet!

Doch wie viele Menschen hierzulande kennen diesen Roman heutzutage? Was wissen wir Nachgeborenen überhaupt von Mary Anne Evans, die an einem 22. November im Jahr 1819 bei Nuneaton in der Grafschaft Warwickshire geboren wurde, und die sich als Verfasserin ihres ersten Romans Adam Bede, der im Jahr 1859 erschien, das männliche Pseudonym George Eliot gegeben hatte?
Knapp zwei Jahre zuvor waren ihre ersten Erzählungen anonym im Blackwood’s Magazine (1857) und zweibändig als Buch unter dem Titel Scenes of Clerical Life (1858) erschienen. Die große Beachtung, die diese Erzählungen erzielten, führte unter den vielen Leserinnen und Lesern zu einem eifrigen Rätseln, von wem sie stammen mögen. Charles Dickens witterte gleich einer Frau am Werk – und wenn sie doch nicht von einer Frau geschrieben wurden, so hätte kein Mann seit der Schöpfung der Welt sich so innig in eine Frau einleben können wie der Verfasser dieser Erzählungen, meinte er. Als dann schließlich nach der Veröffentlichung von Adam Bede ein gewisser Joseph Liggins aus Warwickshire als dessen geheimer Autor gemutmaßt wurde, gab George Eliot ihre Identität preis: Nun wusste die literarisch interessierte Welt, dass sich hinter dem Namen George Eliot die Frau Mary Anne Evans verbarg, die mit dem verheirateten Kritiker und Naturphilosophen George Henry Lewes seit 1854 in wilder Ehe lebte und sich sogar trotz aller gesellschaftlicher Ächtung Mrs. Lewes nannte.

Noch als junge Frau war Mary Anne Evans erfüllt von einer strengen puritanischen und evangelikalen Lebensauffassung. Doch mit der Freundschaft zum Unternehmer Charles Bray und seiner Frau Cara in Rosehill bei Coventry, in deren Nähe sie mit ihrem Vater gezogen war, als sie 21 Jahre alt wurde, lernte sie viele progressive Denker wie Robert Owen, Herbert Spencer und Ralph Waldo Emerson kennen. Hier machte sie Bekanntschaft mit einer ganz anderen Auffassung des Christentums, wie sie etwa in Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß zum Ausdruck kam. 1846 erschien ihre englische Übersetzung dieses überaus kritischen Werks des Tübinger Philosophen und Theologen, das ein so unerhörtes Aufsehen verursacht hatte.
Nach dem Tod ihres sehr verehrten Vaters im Jahr 1849 war Mary Anne Evans 30-jährig mit den Freunden Bray nach Genf gereist, wo sie auch nach deren Abreise noch einige Monate blieb, intensiv weiterlas und das weite Wasser und den Anblick der Berge genoss. 1850 lebte sie als Marian Evans in London, arbeitete mit dem Verleger John Chapman als Redakteurin für die von vielen Freigeistern und sonstigen liberalistisch Denkenden hochgeschätzte Zeitschrift The Westminster Review. Von ihr erschienen mehrere glänzende, pointiert formulierte Essays wie «Silly Novels by Lady Novelists» und Rezensionen. Gleichzeitig wohnte sie im gleichen Haus mit John Chapman, seiner Frau und seiner Mätresse – was zu zusätzlichen Spannungen führte, sodass sie wieder ausziehen musste. Eine Weile entwickelte sie eine leidenschaftliche Neigung zum jungen Philosophen Herbert Spencer, die aber trotz hoher Achtung nicht erwidert wurde. Erst durch die Bekanntschaft mit dem verheirateten George Henry Lewes fand sie den Gefährten ihres Lebens. Im Juli 1854 reisten beide nach Weimar, wo er Material für eine Biographie über Goethe sammelte. Erst diese innige Freundschaft ermöglichte die Entstehung ihrer vielbeachteten fünf Erzählungen und sieben Romane.

Die «berühmteste Anekdote» über George Eliot überliefert Frederic W. H. Myers, der als junger Trinity-College-Graduierter in Cambridge 1873 mit ihr nach dem Dinner im Garten saß: «Mit schrecklichem Ernst sprach sie die Worte: ‹Gott, Unsterblichkeit, Pflicht›. Wie unbegreiflich der erste, wie unglaublich die zweite und doch wie gebieterisch die dritte seien. Ich lauschte ihr, und die Nacht zog herauf. Ihr ernstes majestätisches Gesicht war mir zugewandt wie das einer Prophetin der Düsternis. Es war, als entwinde sie meiner Hand die beiden Schriftrollen der Verheißung und der Hoffnung, eine nach der anderen, und ließ mir nur die dritte des unausweichlichen Schicksals voller Schrecken.» So im Deutschen übermittelt in der Biografie, die Elsemarie Maletzke über George Eliot 1993 für den Insel Verlag schrieb. Nicht darin wiedergegeben ist die Passage aus einem Brief, den Frederic Myers an George Eliot nach seiner Lektüre ihres vorletzten Romans Middlemarch schrieb: «Das Leben hat sich also dahingehend ent­wickelt – nun, da es weder einen Gott gibt noch ein Jenseits oder irgendetwas besonders Erstrebenswertes – dass wir nur durch die Begegnung mit einem anderen Menschen wir selbst sein können … Und so ist es, dass die Lektüre von Dorotheas nächt­lichen inneren Kampf und dem darauf folgenden Besuch bei Rosamond besser ist als eine gewöhnliche Leidenschaft, obwohl bloß auf Papier in einem Buch geschrieben, denn das ist es, wonach wir uns sehnen, selbst wenn es bloß ein Schatten sein sollte; dies ist das Höchste, was wir uns als Leben in diesem Stadium der Weltentwicklung vorstellen können. Solche Szenen finden Einkehr in die einzig unverwüstliche Welt … Sie scheinen nun die einzige Person zu sein, die vorurteilslos das Leben edel und interessant machen können.» (Zitiert nach Rosemary Ashton: George Eliot. Past Masters, Oxford University Press 1983).

Vielleicht ist die Zeit gekommen, in der wir auf der Suche nach dem anderen Menschen wieder von George Eliot lernen und uns gefördert fühlen können. Vielleicht sollten wir sie (wieder)lesen …