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Marc Mauguin

Wie «Die Wartenden» entstanden sind

Nr 239 | November 2019

Obwohl ich mich nicht erinnern kann, wann genau in meiner Jugend und unter welchen Umständen ich auf das Werk von Edward Hopper aufmerksam geworden bin, so weiß ich doch, dass diese Entdeckung unmittelbar die Dimension einer entscheidenden Begegnung hatte, die nicht nur mein Verhältnis zur Malerei, sondern auch zum künstlerischen Schaffen ganz allgemein verwandelt hat: dem der anderen und dem, das ich damals für mich selbst in Betracht zu ziehen begann.
Was mich heute noch mitreißt, wenn ich ein Werk dieses Malers betrachte, ist der suggestive Charakter seiner Gemälde: Selbst wenn Hopper in den allermeisten Bildern eine realistische Szenerie darstellt, die in ihrer Alltäglichkeit banal ist, geht er doch nicht so weit, uns eine Geschichte zu erzählen und uns zu verdeutlichen, was zum Beispiel die Frau aus Cape Cod Morning («In der Ferne», so der Titel meiner ersten Erzählung), die sich dem Außenraum entgegenlehnt, durch die Scheibe ihres Erkerfensters anschaut. So lässt er dem Betrachter die Freiheit seiner Vorstellungskraft, und dieser kann so weit gehen, wie er möchte, und für die Frau ein ganzes Leben erfinden, das vor diesem Moment stattgefunden hat, der in Raum und Zeit in der Schwebe gehalten wird.
Eben das widerfuhr mir beim Schreiben von Die Wartenden: Dadurch, dass sie meine eigene Vorstellungswelt widerspiegelten, haben zwölf Gemälde von Hopper mir vor allem einen fiktionalen Raum nahegelegt, in dem sich auf unerwartete Weise die Wege von liebenswerten oder zynischen Personen kreuzen. Fast immer sind es Opfer oder Henker, die uns aber durch die Prüfungen, die sie durchmachen, nahe sind.
Die Bilder brachten die Themen der Texte, die ich schreibe (zumindest derjenigen, die ich bisher geschrieben habe), zum Schwingen. Die fundamentale Einsamkeit des Menschen angesichts einer jeden Entscheidung, die sein Leben betrifft, die Einzigartigkeit seines Lebensweges, die Zwischenfälle und die Umbrüche, die zuweilen daraus entstehen, das Vergessen und die Erinnerung sowie die Wiederkehr der Gespenster.
Nach dem Vorbild der Männer und Frauen, die der Maler in einem Augenblick ihres Daseins dargestellt hat, wollte ich in Die Wartenden Geschichten über die Leben der kleinen Toten (Vies minuscules – um den Titel eines Buches des französischen Schriftstellers Pierre Michon aufzugreifen) im Amerika der 1930er- bis 1960er-Jahre schreiben. Sie sind durch das wiederholte Auftreten einiger Personen miteinander verknüpft und ver­suchen, eine gesellschaftliche, eine innere und eine Landschaft der Gefühle zu entwerfen.
Das Bestreben nach einem Dokumen­tieren der Zeit, in der Hopper gelebt und gearbeitet hat, hat während des gesamten Schreibprozesses meine Vorstellungswelt strukturiert und in einem kontinuierlichen Dialog angereichert, den ich versuchsweise noch fortgesetzt habe: Der Titel jeder Erzählung verweist, was Licht, Material und Komposition angeht, ebenfalls in die Welt der Malerei. Im Titel, den ich zum Beispiel für die erste Geschichte ausgewählt habe, «In der Ferne» – ihr liegt das Gemälde Cape Cod Morning (1950) zugrunde –, klingt mit Blick auf die Malerei die Bedeutung im räumlichen Sinne an, er deutet aber zugleich auch auf eine zeitliche Dimension. Denn Josephine, die in Einsamkeit versunkene Protagonistin, wendet sich an ihrem Lebensabend der Vergangenheit zu und erinnert sich an Augenblicke und Menschen, die dieses Leben in seinem Verlauf erschüttert haben.
Das ist gewiss eine zusätzliche Art und Weise, den Brückenschlag zu vollenden, den ich mit Die Wartenden zwischen dem Werk Hoppers und dem literarischen Schreiben versucht habe. Beim Schreiben dieser Kurzgeschichten hatte ich eine Zeitlang intensiv mitten in der Welt eines meiner Lieblings­maler gelebt.

Aus dem Französischen von Cordula Unewisse