Wenzel M. Götte

Geheimnisvolle Entdeckung

Nr 240 | Dezember 2019

Im ausklingenden Jahr 2019 gilt es, ein spektakuläres Ereignis zu würdigen. Am Abend des 18. Dezember vor 25 Jahren, also 1994, entdeckten eine Frau und zwei Männer – Éliette Brunel Deschamps, Jean-Marie Chauvet, Christian Hillaire – ein geheimnisvolles Reich, das seit 20.000 Jahren kein Fuß betreten hatte. Viele Jahre waren sie schon auf der Suche nach einem solchen Schatz gewesen, bis sich an diesem Tag ihr Traum erfüllte. Alle drei waren im Lauf dieser Suche zu veritablen Speläologen, d.h. Höhlenforschern, herangereift. Doch wie kam es zu diesem außergewöhnlichen Fund, von dem hier berichtet wird?

Die Höhlenforscher Deschamps, Chauvet und Hillaire arbeiteten systematisch und professionell. Mit Hilfe kleiner Rauchpatronen suchten sie nach Stellen, an denen ein Luftzug den aufsteigenden Rauch ablenkte, denn das konnte auf eine Öffnung im Boden hindeuten, möglicherweise sogar auf eine darunterliegende Höhle. Eine solche Stelle entdeckten sie in einem Gebiet, in dem schon mehrere kleinere Höhlen gefunden worden waren. Es ist eine malerische Stelle im Tal des Flusses Ardèche, ganz in der Nähe des berühmten Pont d’Arc, eines hohen Felsbogens, der sich seit einer halben Million Jahren über den Fluss spannt. Die Stelle, an der der Rauch verheißungsvoll abgelenkt wurde, befand sich in der Wand eines hohen Kalkplateaus, das sich weit entlang den Ufern des Flusses hinzieht. Über Jahrtausende hatte das Regenwasser viele größere und kleinere Gängen in den Fels gegraben und dabei Höhlen geschaffen, ähnlich wie wir es von der Schwäbischen Alb her kennen.
Als sie die kleine entdeckte Öffnung erweitert hatten und über eine Strickleiter in den sich vor ihnen auftuenden Schacht hinabstiegen, eröffnete sich ihrem Blick eine grandiose unterirdische Welt. Es war tatsächlich eine Höhle. Die Decke und der Boden waren geschmückt mit Tropf­steinen und Sintervorhängen aus Kalzit. Wie sie später ermittelten, zog sich die Höhle mit Sälen, Seitengängen und Nischen über 500 Meter hin. Sie staunten aber nicht nur über die Naturschönheit. An den Wänden entdeckten sie im flackernden Licht ihrer Karbidlampen Malereien von unglaublicher Schönheit. Tierbilder, Zeichen, Handabdrücke schmückten den Fels. Sie wussten, dass sie eine einmalige Kostbarkeit, ein Heiligtum aus grauer Vorzeit entdeckt hatten, und beschlossen, alles zunächst einmal geheim zu halten.
Das war ein guter Entschluss. Denn in den früher entdeckten Bilderhöhlen hatten die Besucher, die in Strömen kamen, unwissentlich allein durch ihre Atemluft nicht wiedergutzumachende Schäden angerichtet. Pilze und Algen wuchsen auf den Bildern, ein weißer Kalzitschleier überzog sie. So war es in den beiden großen Bilderhöhlen Altamira in Nord­spanien und Lascaux in Südfrankreich geschehen.
Die Höhle Chauvet, benannt nach einem ihrer Entdecker, war nachweislich vor ihrer Wiederentdeckung 22.000 Jahre von keinem Menschen mehr betreten worden. Ein Felssturz hatte den Eingang verschlossen. Damit war sie noch unberührt in ihrem Urzustand, als die Speläologen in sie hineinkletterten.

In allen drei genannten Höhlen ist der Zugang für das gewöhnliche Publikum (inzwischen) gesperrt. Dafür wurden aber, auch für Chauvet, Repliken in der Nähe der Originale gebaut.
Diese sind – dank modernster Technik – bis auf den Milli­meter genaue Kopien der Originale. Teilweise wurde sogar das Klima in der Höhle, wie etwa die stets gleichbleibende Temperatur von etwa 11 bis 12 Grad C, die Luftfeuchte und -zusammensetzung künstlich erzeugt, sodass der Besucher einen möglichst echten Eindruck gewinnen kann. Die Nachbildung von Chauvet wurde im Jahr 2015 eröffnet. Ströme von Menschen aus aller Welt besuchen sie, um die Höhlenbilder wenigstens als Kopien zu sehen.
Nach der anfänglichen Geheimhaltung wurden Wissenschaftler und Vertreter des Staates ein­ge­weiht – und die wissenschaftliche Erforschung der Höhle begann.
Allmählich gelangten dann doch die ersten Berichte an die Öffentlichkeit. Und sie waren fast schockierend. Denn als das Alter bei einem Teil der Bilder ermittelt war, stellte sich heraus, dass sie aus der Zeit etwa um 32.000 Jahre vor heute stammen mussten. Um 15.000 Jahre vor der Zeit, in der die Bilder von Lascaux entstanden waren. Dies bedeutete: Sie gehörten in die frühe Zeit des aus Afrika nach Europa eingewanderten Homo sapiens, das sogenannte Aurignacien. Doch nicht allein das Alter war so verblüffend. Unglaublich war auch die Höhe des künstlerischen Könnens, mit dem sie gemalt waren. Es verwundert nicht, dass daher bis heute unter Wissenschaftlern ein Streit um das wahre Alter schwelt.
Die Abbildung auf dieser Seite zeigt einen Ausschnitt aus einem 12 Meter langen Abschnitt einer Wand am Ende der Höhle. In der Höhe sind insgesamt über 400 Tiere abgebildet. An dieser Wand erscheinen auf beiden Seiten des Löwenrudels und darüber Tiere, die sich in freier Wildbahn nicht unbedingt gerne begegnen: außer den Löwen sind es Pferde, Wollnashörner, Mammute und Bisons. Erstaunlich ist, wie die Künstler die Umrisse, die Haltung der Tiere und auch kleine Details perfekt gezeichnet haben; meist mit Kohle. So sieht man bei den Löwen den Tränengang vom Auge herab deutlich gezeichnet. Das Panorama der Tierbilder enthält wunderbare Darstellungen von «Pferdebüsten», die in ihrer Schönheit an Bilder von Franz Marc erinnern. Dabei gewinnen die Bilder durch feine Schattierungen Plastizität und werden durch ein gekonntes Hinter- und Übereinander räumlich erlebbar. Im obigen Bild wird auch ein weiterer künstlerischer Griff erkennbar: Man stellte Szenen vieler einzelner Tiere zusammen und schuf bewusst eine Komposition. Wir können nur staunen, mit welcher Vollkommenheit die Eiszeitmenschen solche Kunstwerke gestalteten.
Es verwundert nicht, dass bedeutende Erforscher der Eiszeitkunst von den Höhlen Altamira oder Niaux als «Kathedralen der Eiszeit» oder von Lascaux als «Sixtinische Kapelle der Frühzeit» gesprochen haben. Diese Höhlen waren nicht bewohnt. Man darf annehmen, dass sie einem anderen Zweck gedient haben: einem Kult der Tiere. Keineswegs dienten sie, wie man lange glaubte, einer Jagdmagie, die den Jagderfolg durch Beschwörung sichern sollte. Denn Zählungen zeigen: Es wurden in der Hauptsache nicht die am häufigsten gejagten Tiere, etwa Rentiere, dargestellt. – Was die Menschen bewegte, diese Kunstwerke zu schaffen, in denen es mit ganz wenigen Ausnahmen keine Bilder von Menschen, Landschaften oder Pflanzen gibt, was sie dachten, fühlten – das bleibt ein Rätsel, dem wir uns nur vorsichtig annähern können. Die Menschen jener Zeit lebten unter einem unverschleierten Himmel und schufen im tiefen inneren der Erde eine heilige Schönheit. Ihr begegneten die drei Entdecker vor 25 Jahren. Sie sorgten für deren Bewahrung und verhalfen der Nachwelt dazu, sie bewundern zu können.