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Jef Aerts

Die blauen Flügel

Nr 240 | Dezember 2019

gelesen von Simone Lambert

Aus der Sicht des elfjährigen Josh wird die Geschichte seiner Familie erzählt. Josh ist eng mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Jadran verbunden, der aus gutem Grund «Riese» gerufen wird. Im Herzen und im Kopf deutlich jünger als sein kleiner Bruder, ist es Josh, der auf den Riesen aufpasst. Eines Tages finden sie einen jungen verletzten Kranich, dem Jadran um jeden Preis das Fliegen beibringen will. Den Preis zahlt Josh, denn Jadran stößt ihn vom Dach, in der Überzeugung, mit den großen blauen Theaterflügeln könne Josh fliegen und dem Kranich zeigen, wie es geht. Josh landet mit einem mehrfach gebrochenen Bein im Krankenhaus. Das verändert alles: Kann Jadran, der mit seinen Kräften nicht umgehen kann, der zu wild, zu fordernd, zu stark, zu eigensinnig ist, noch in der Familie bleiben? Es ist ein Krisenmoment, denn gerade sind Murad, der Freund der Mutter, und dessen Tochter Yasmin zu ihnen gezogen. Gibt es unter diesen beengten Verhältnissen im neuen Gefüge noch einen Platz für den Riesen?
Als Jadran begreift, dass er in eine Einrichtung ziehen soll, reißt er aus: Er packt Josh in den Rollstuhl und den Kranich dazu und zieht mit ihm auf einem Trecker Richtung Süden, um den Kranich zurück zu dessen Familie zu bringen. Jadran stellt es überraschend geschickt und planvoll an, und die Rollen kehren sich zum ersten Mal um: Jadran sorgt für den fußkranken Josh. Für beide ist die gemeinsame Reise ein Abenteuer unter Brüdern – ihre Unternehmung ist ebenso mutig wie aussichtslos.
Joshs innerer Konflikt teilt sich zwischen den Zeilen mit. Die Liebe und Loyalität gegenüber seinem Bruder steht mitunter gegen seinen Selbstschutz und seine eigenen Interessen. Er als Kind ist mit zu viel Verantwortung betraut. Es ist Yasmin, die eine Schlüsselrolle dabei spielt, als es darum geht, das Familiengefüge neu zu ordnen. Als Jadran wieder einmal auf einem Dach steht, weil er nicht weg will von zu Hause, ist sie es, die die blauen Flügel erneut ins Spiel bringt …
Der Kranich wird gemeinsam verabschiedet werden und Joshs und Jadrans Mutter begreift und entscheidet neu über die Zukunft der Familie.
Jef Aerts hat aus einem kleinen Sozialdrama eine sensibel erzählte Familiengeschichte gemacht. Wie er sich gerade in Jadran einfühlt und den Gehandicapten als eine reiche Persönlichkeit schildert, die einen wichtigen Platz im Familiengeflecht innehat, zeigt Empathie und innere Freiheit. Aerts schildert Yasmin als ein eigenwilliges Mädchen, das sich engagiert für die neuen Brüder einsetzt. Ihre Fantasie und Neugier, ihr Einsatz bringt Auftrieb und Freiraum in die festgefahrene Lage. Und für Josh ist sie eine neue Verbündete.

Jef Aerts verfügt über eine reiche Sprache; er ist ein Meister des Stils, der aus einer vermeintlich eindeutigen Problematik eine komplexe Situation spinnt, die ohne Allgemeinplätze auskommt und sich in poetischen Bildern klärt. Es gelingt ihm eine Roadnovel mit Traktor und einem Engel mit blauen Flügeln über eine liebenswerte Familie, die intensiv und warm über das erzählt, was wirklich wichtig ist.